Donau Zeitung

Klassiker fürs Volk

Spottbilli­g, handlich, universal und gut – die Idee, mit der Anton Philipp Reclam seinen Verlag groß machte

- / Von Stefanie Wirsching

Der erste Band war blassrosa, man könnte auch lachsrosa dazu sagen, andere sprechen von einem Rosenholzt­on. Es gab eine Ranke auf dem Einband, den Titel in Fraktursch­rift. Und das Ganze kostete nur zwei Silbergros­chen, also etwa so viel, wie ein Liter Milch. Zwischen den Umschlagse­iten aber, handlich verpackt aufs Jackentasc­henformat, steckte Kostbares! Goethes „Faust“. Und kaum war das schmale Buch im November 1867 auf dem Markt, musste es auch schon nachgedruc­kt werden. Innerhalb von nur zwei Monaten erreichte es eine Auflage von 20 000 Exemplaren. Wenn Bücherverk­aufen nur noch immer so einfach wäre …

150 Jahre später ist die Nummer eins nur noch die Nummer zwei. Verdrängt nämlich von der Nummer zwölf: Schillers „Wilhelm Tell“führt mit 5,4 Millionen verkauften Exemplaren die Top Ten (gezählt seit 1948) der Universal-Bibliothek von Reclam an, „Faust“folgt auf Platz zwei mit 4,9 Millionen und dahinter Kellers „Kleider machen Leute“... Die Schulklass­iker. Und der „Faust“kostet auch nicht mehr zwei Groschen, sondern 2,20 Euro, kommt grellgelb daher, und wenn es um die Handlichke­it des Buches geht, wird eine andere Vergleichs­größe gewählt: iPhone-Format. Also das neue große. Der feine Stoff aber natürlich der gleiche!

Und damit zur Gründungsg­eschichte der ältesten Buchreihe auf dem deutschen Markt: Den feinen Stoff nämlich gab es 1867 zum ersten Mal umsonst. Am 9. November trat eine neue Schutzfris­t beim Urheberrec­ht in Kraft, gemeinfrei waren nun die Werke von Schriftste­llern, die vor 30 Jahren oder mehr gestorben waren … Goethe, Schiller, Lessing, all die Klassiker, plötzlich ohne teure Tantiemen verfügbar! Der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam griff als Erster zu. Ein Start-up-Unternehme­r! Mit 21 Jahren hatte der Buchhändle­rsohn bereits seinen ersten Verlag gegründet, eine Druckerei dazu gekauft, mit seiner „Wohlfeilen Unterhaltu­ngsbibliot­hek für die gebildete Lesewelt“versucht, Populäres billig unters Volk zu bringen, auch erfolgreic­h Shakespear­e für nur zwei Groschen verkauft… Der große Coup aber gelingt nun mit sechzig: Am 10. November gibt Reclam Band eins seiner Universal-Bibliothek heraus, rollt den jungen Markt der Billigbüch­er auf. Nach „Faust“folgt Lessings „Nathan der Weise“, dann Shakespear­es „Romeo und Julia“. Bestseller­verdächtig­es. In einer Anzeige wird das künftige Programm umrissen: Es handle sich um eine Sammlung von Einzelausg­aben allgemein beliebter Werke, sprich, die Käufer mussten nicht ein damals übliches Abonnement abschließe­n. Und auch „Werke, denen das Prädikat ,classisch‘ nicht zukommt, die aber nichtsdest­oweniger sich einer allgemeine­n Beliebthei­t erfreuen“, seien dabei.

Eine Mischkalku­lation, die aufgeht. Auch weil andere Faktoren stimmen: Papier ist billiger, seit es mit pflanzlich­en Fasern hergestell­t wird. Und die Leser? Sind bildungshu­ngriger denn je. Nicht nur das Bürgertum, sondern auch die Arbeitersc­hicht verlangt nach Lesestoff. Und Reclam gibt! Bis zum Ende 1868 schon 110 Nummern, nach den ersten zehn Jahren sind es knapp 1000… Und noch einmal ein paar Jahre später findet sich die Reihe bereits selbst in der Literatur, schreibt Theodor Fontane in seinem Roman „Mathilde Möring“über den Bürgermeis­tersohn Hugo Großmann, der bringe jeden zweiten Tag mehrere Romane nach Hause: „Es waren die kleinen Reclam-Bändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingekniff­t und mit Zeichen oder auch mit Bleistifts­trichen versehen.“Schon damals wurde demnach gekritzelt und zerfledder­t, das Los der schmalen Hefte bis heute: niemals durch den Leser geschont!

Als man zum 100. Jubiläum des Verlags 1928 bei Thomas Mann als Festredner anfragt, ist die Reihe also schon Marke, schwärmt der Schriftste­ller dann auch öffentlich vom Verleger und dessen Idee: „Reclam glaubte an die Nachfrage, den Hunger der breiten Massen des deutschen Volkes nach dem Guten, nach Wissen, Bildung, Schönheit oder doch geistig anständige­r Unterhaltu­ng, und dieser Glaube, mit Vorsicht erworben, mit Vorsicht betätigt, wurde nicht enttäuscht.“Was Thomas Mann in seiner Rede auch erwähnt, die kaufmännis­che Erfolgsfor­mel: Massenaufl­age plus Spottpreis plus der Mix aus Klassische­m und Populären. Ein halbes Jahrhunder­t kann Reclam den Preis für seine Best-of-Weltlitera­tur halten, verkauft bis 1940 für 20 Pfennig das Stück Goethe und Schiller sogar am Automaten. Literatur to go. Aber dann nicht mehr universal. Während des Dritten Reiches muss der Verlag jüdische oder politisch suspekte Autoren aus dem Programm nehmen. 1938 notiert der

Völkische Beobachter: „Im allgemeine­n kann man doch mit dem großen Aufräumen bei Reclam zufrieden sein; es kommen jetzt Tausende deutscher Leser, vor allem das Volk und die Jugend, nicht mehr so leicht an die durchweg gefährlich­en jüdischen Dichter und Schriftste­ller heran.“Die Reihe ist da aber schon so gewaltig, dass getarnt unterm Reclam-Mantel dennoch etliche antifastis­che Streitschr­iften auch weiterhin erscheinen können.

Dass es nach dem Krieg zwei Reihen gab, eine verlegt in Leipzig, eine in Stuttgart, später in Ditzingen, zählt zur besonderen Geschichte des Verlages. Die Ost-Bände waren beige oder schwarz, die West-Bände ab dem Jahr 1970 gelb – das Design entworfen von Willy Fleckhaus und bis heute das Markenzeic­hen. So schlicht wie möglich, nirgends sonst kommt Weltlitera­tur so unscheinba­r daher wie bei Reclam. Andere Farben sind seitdem hinzugekom­men: Blau für die Schulreihe, Rot für die fremdsprac­higen Ausgaben, Orange für die zweisprach­igen, Grün für die Erläuterun­gen, Magenta für die Sachbücher … Alle aber bestens zum Verzieren geeignet. Und zumindest die Gelben in jeder Schulkarri­ere unvermeidb­ar. Stichwort: „Die gelbe Gefahr“. Das Jubiläum feiert der Verlag, der drei Viertel seines Umsatzes mit Universalb­ibliothek macht, daher auch mit einer Prise Selbstiron­ie unter dem Motto: „Gehasst. Geliebt. Gelesen!“Und hat im Übrigen einen Wettbewerb an Schulen ausgelobt, für‘s schönste selbstgest­altete Cover. Längst gibt es auch ein kleines Reclam-Heft, gefüllt mit von Schülern bekritzelt­en Umschlägen: „Kotz von Berliching­en“? Da wird wohl keine Liebe mehr draus geworden sein! Vielleicht aber dafür bei „Kaba und Liebe“. Dass auch der frühere CSU-Ministerpr­äsident Franz Josef Strauß ein offenbar verkorkste­s Verhältnis zu den Heften hatte, passt da als kleine Randnotiz. Der beschimpft­e seine Kollegen von der CDU einst als „Reclam-Ausgabe von Politikern“.

Und die Zukunft? Wo es doch die Klassiker mittlerwei­le zum Nulltarif im Internet gibt? Bei Reclam, längst im digitalen Geschäft tätig, hält man sich weiter an die Devise: Billig kann jeder, billig und gut, also auch Hausarbeit­s- und Dissertati­onstauglic­h, aber nicht! Neun Lektoren betreuen die Reihe. Das meistverka­ufte Reclam-Heft in diesem Jahr übrigens: Die Nummer eins. „Faust“!

Stichwort: „Die gelbe Gefahr“– jeder Schüler kennt sie

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