Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (6)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Ich vermute, dass Tommy schon eine Weile vor diesem Elefantenbild das Gefühl hatte, nicht mit den anderen mithalten zu können, dass er speziell im Malen auf dem Niveau eines viel Jüngeren war, und das versuchte er zu kaschieren, so gut es ging, indem er absichtlich kindische Bilder anfertigte. Aber nach dem Elefanten war die Sache auf dem Tisch, und jetzt lauerte jeder darauf, was wohl als Nächstes käme. Anscheinend strengte er sich eine Zeit lang an, aber kaum hatte er eine Zeichnung begonnen, hörte er von allen Seiten Hohngelächter und Gekicher, ja, je mehr er sich anstrengte, desto größer war der Spott, den er erntete. Also kehrte Tommy früher oder später zu seinem ursprünglichen Selbstschutz zurück und produzierte Arbeiten, die absichtlich naiv waren, um damit auszudrücken, dass ihm alles völlig gleichgültig war. Von da an ging es bergab.
Eine Zeit lang nahmen sie ihn nur im Kunstunterricht aufs Korn – das war schon oft genug, denn in den Junior-Klassen malten und zeichneten wir viel. Aber es breitete sich aus. Er wurde bei den Spielen übergangen, beim Essen wollte niemand neben ihm sitzen, und seine Zimmergenossen ignorierten ihn, wenn er abends im Schlafsaal, nachdem die Lichter gelöscht waren, etwas sagte. Anfangs war die Ächtung noch nicht so gnadenlos wie später. Manchmal vergingen Monate ohne einen Zwischenfall, erhielt das Ganze für überstanden, aber dann ließ etwas, das er selbst tat – oder auch einer seiner Feinde, wie Arthur H. –, das Ganze wieder aufflammen.
Ich weiß nicht mehr genau, wann die großen Wutanfälle anfingen. Soweit ich mich erinnere, war Tommy schon immer für seinen Jähzorn bekannt, schon im Kindergarten; er hingegen meinte, sie hätten erst angefangen, nachdem die Hänseleien so schlimm geworden seien. Jedenfalls brachten diese Zornausbrüche die anderen natürlich erst recht gegen ihn auf und ließen die Situation eskalieren, und um die Zeit, von der ich rede – in dem Sommer, als wir dreizehn waren und in Senior 2 –, hatten die Schikanen ihren Höhepunkt erreicht.
Dann hörte alles auf, nicht gerade über Nacht, aber doch ziemlich plötzlich. Ich beobachtete, wie gesagt, die Situation aus der Nähe und erkannte deshalb die Anzeichen früher als die meisten anderen. Es begann mit einer Phase – die vielleicht einen Monat dauerte, vielleicht auch länger –, in der die Gemeinheiten unvermindert anhielten, aber Tommy nicht mehr wie gewohnt explodierte. Manchmal sah ich, dass er nahe daran war auszurasten, aber sich irgendwie beherrschte; dann wieder sah ich ihn nur leicht die Schultern zucken oder so tun, als hätte er gar nichts bemerkt. Zuerst war die Enttäuschung groß, vielleicht nahm man es ihm sogar übel, dass er nicht mehr mitspielte, als ließe er sie im Stich. Aber mit der Zeit wurde es den Schülern langweilig, und die Schikanen wurden immer halbherziger, bis mir eines Tages auffiel, dass seit mehr als einer Woche gar nichts passiert war.
Das wäre an sich noch nicht so bedeutsam gewesen, aber ich bemerkte noch andere Veränderungen, Kleinigkeiten – zum Beispiel, dass Alexander J. und Peter N. einträchtig mit ihm über den Hof zum Sportplatz gingen und die drei ganz normal miteinander plauderten; dass der Tonfall der Kollegiaten bei der Erwähnung seines Namens auf subtile, aber unverkennbare Weise anders klang als früher. Dann saß einmal eine Gruppe von uns in einer Nachmittagspause im Gras nahe dem südlichen Spielplatz, wo die Jungs wie üblich Fußball spielten. Ich beteiligte mich am Gespräch, behielt aber Tommy im Auge, der im Zentrum des Spielgeschehens stand. Irgendwann wurde er zu Fall gebracht, stand wieder auf und legte sich den Ball für den Freistoß zurecht. Während die anderen sich erwartungsvoll über das Spielfeld verteilten, sah ich, wie Arthur H., einer seiner schlimmsten Peiniger, ein paar Meter hinter seinem Rücken mit einer dämlichen Parodie von Tommy begann, der mit den Händen an den Hüften hinter dem Ball stand. Ich beobachtete die Spieler scharf, aber keiner von ihnen griff – Arthurs Stichwort auf. Es konnte ihnen nicht entgangen sein, denn alle blickten zu Tommy hin und warteten auf seinen Schuss, und Arthur stand direkt hinter ihm – aber die Parodie interessierte niemanden. Tommy führte den Freistoß aus, das Spiel ging weiter, und Arthur H. verzichtete auf weitere Versuche, ihn lächerlich zu machen.
Ich freute mich über diese Entwicklung, konnte sie aber nicht verstehen. Tommys Leistungen hatten sich nicht wesentlich verändert, in Sachen „Kreativität“war sein Ruf so schlecht wie eh und je. Dass die Wutanfälle ausblieben, machte natürlich eine Menge aus, aber was der eigentliche Auslöser des Wandels war, ließ sich schwer sagen. Es musste an Tommy selbst liegen – an seinem Auftreten, an seiner Art, wie er den anderen ins Gesicht sah und sie ansprach, offen und gutmütig, wie er nun einmal war: Das war anders als früher, und sein neues Verhalten beeinflusste wiederum die Einstellung seiner Umgebung zu ihm. Aber was die tief greifende Veränderung bewirkt hatte, war nicht klar.
Ich stand vor einem Rätsel und beschloss, ihn bei der nächsten Gelegenheit, wenn wir ungestört miteinander reden konnten, auszuhorchen. Die Gelegenheit bot sich schon bald, als ich mich ein paar Tage später zum Mittagessen anstellte und ihn ein paar Plätze vor mir in der Schlange entdeckte.
Es mag sonderbar klingen, aber in Hailsham war die Schlange an der Essensausgabe tatsächlich eine der besten Gelegenheiten für ein Gespräch unter vier Augen. Das lag an der Akustik in der großen Halle; der Lärmpegel in dem hohen Raum brachte es mit sich, dass man eine ziemlich gute Chance hatte, unbelauscht zu bleiben, sofern man die Stimme senkte, nahe beieinander stand und darauf achtete, ob die Nachbarn selbst in ein Gespräch – vertieft waren. Jedenfalls hatten wir nicht gerade die Qual der Wahl – „stille“Orte waren meistens die schlimmsten, denn da bestand immer die Gefahr, dass jemand in Hörweite vorbeikam. Und sobald einer Anstalten machte, sich zu einem Privatgespräch davonzustehlen, merkten es alle binnen Minuten, und die Chance war vertan.
Als ich Tommy also ganz in der Nähe entdeckte, winkte ich ihn zu mir – denn die Regel lautete, dass man nicht aufrücken, sich aber durchaus zurückfallen lassen durfte. Er kam mit einem begeisterten Lächeln zu mir, und eine Zeit lang standen wir nebeneinander, ohne viel zu sagen – nicht aus Verlegenheit, sondern weil wir warteten, bis sich die Aufmerksamkeit, die Tommys Platzwechsel erregt hatte, wieder gelegt hatte. Dann sagte ich zu ihm:
„Seit einiger Zeit wirkst du viel zufriedener, Tommy. Anscheinend läuft’s jetzt viel besser.“
„Dir entgeht aber auch nichts, Kath, was?“Er sagte das ohne eine Spur von Sarkasmus. „Yeah, alles in Ordnung. Ich komme ganz gut zurecht.“