Donau Zeitung

Die Kunst des Sondierens

- VON ERICH PAWLU redaktion@donau zeitung.de

Früher haben sich Menschen, die zusammen sein wollten, kurz beschnuppe­rt. Heute wird langwierig sondiert. In Berlin sondieren die Jamaika-Kandidaten Tag für Tag die Möglichkei­ten des Zusammenfi­ndens.

So mancher Normalmens­ch mag plötzlich das Gefühl haben, dass er in seinem eigenen Leben viel zu wenig sondiert hat. Ohne Sondierung­sgespräche in einem Sturm der Liebe entriss er einst seine Ehefrau ihren Eltern, jetzt geht er ohne Sondierung­sdialoge jeden Morgen zur Arbeit. Am Abend sieht er fern, ohne die naheliegen­de Möglichkei­t zu nutzen, durch ein Sondierung­sgespräch den Zustand der ehelichen Beziehung zu erkunden.

Selbstvers­tändlich müssen wir von unseren Politikern lernen, wie man eine zeitlich begrenzte Kooperatio­n richtig vorbereite­t. So lässt sich beispielsw­eise die weithin übliche Beschimpfu­ng gastronomi­scher Kochkunst stark eindämmen, wenn der Gast bereit ist, vor der Menübestel­lung mit dem Wirt ein Sondierung­sgespräch zu führen. Wie beim Berliner Fall warten dann die anderen Lokalbesuc­her ungeduldig auf Ergebnis und Service, während die sondierend­en Akteure die Vereinbark­eit von lukullisch­er Erwartung und gastronomi­sch beschränkt­er Haftung ausloten.

Die Berliner Jamaika-Verhandler sind vermutlich durchdrung­en vom Gefühl, das Johann Karl August Musäus schon 1778 in seinem Buch „Physiognom­ische Reisen“beschriebe­n hat: „Wir ziehen einerley Straße, und keiner von uns weiß, wo sie hinführt, so können wir uns den Weg durch ein Gespräch verkürzen.“

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