Die Kunst des Sondierens
Früher haben sich Menschen, die zusammen sein wollten, kurz beschnuppert. Heute wird langwierig sondiert. In Berlin sondieren die Jamaika-Kandidaten Tag für Tag die Möglichkeiten des Zusammenfindens.
So mancher Normalmensch mag plötzlich das Gefühl haben, dass er in seinem eigenen Leben viel zu wenig sondiert hat. Ohne Sondierungsgespräche in einem Sturm der Liebe entriss er einst seine Ehefrau ihren Eltern, jetzt geht er ohne Sondierungsdialoge jeden Morgen zur Arbeit. Am Abend sieht er fern, ohne die naheliegende Möglichkeit zu nutzen, durch ein Sondierungsgespräch den Zustand der ehelichen Beziehung zu erkunden.
Selbstverständlich müssen wir von unseren Politikern lernen, wie man eine zeitlich begrenzte Kooperation richtig vorbereitet. So lässt sich beispielsweise die weithin übliche Beschimpfung gastronomischer Kochkunst stark eindämmen, wenn der Gast bereit ist, vor der Menübestellung mit dem Wirt ein Sondierungsgespräch zu führen. Wie beim Berliner Fall warten dann die anderen Lokalbesucher ungeduldig auf Ergebnis und Service, während die sondierenden Akteure die Vereinbarkeit von lukullischer Erwartung und gastronomisch beschränkter Haftung ausloten.
Die Berliner Jamaika-Verhandler sind vermutlich durchdrungen vom Gefühl, das Johann Karl August Musäus schon 1778 in seinem Buch „Physiognomische Reisen“beschrieben hat: „Wir ziehen einerley Straße, und keiner von uns weiß, wo sie hinführt, so können wir uns den Weg durch ein Gespräch verkürzen.“