Können Sie diese Schrift noch lesen?
Vor genau 100 Jahren starb Ludwig Sütterlin, der eine genormte, kunstvolle Schrift entwickelte. 1941 wurde sie verboten. Doch auch heute sei eine schöne, leserliche Handschrift nicht zu unterschätzen
Dillingen/Bächingen Müssten Kinder heute diese geschwungenen und verschnörkelten Buchstaben nach dessen Erfinder Ludwig Sütterlin schreiben, wäre das wohl Schwerstarbeit für sie, glaubt Martina Ott, Schulleiterin der Grundschule in Dillingen. Denn die Buchstaben von damals seien kaum mehr identisch mit den heutigen. Schleifen, Schwünge und Bögen haben sich verändert oder sind ganz weggefallen. Das „h“erinnert an das heutige „f“, und der Buchstabe „e“ähnelt dem „n“. Nur das kleine „z“gleicht dem von Sütterlin.
An den Schulen im Landkreis Dillingen wird seit einigen Jahren die sogenannte „vereinfachte Ausgangsschrift“gelehrt. Sie löste im Jahr 2000 die gängige lateinische Schrift ab. Nicht alle Lehrer sind darüber glücklich, berichtet Martina Ott. Manche klagten über eine zunehmende Verschlechterung des Schriftbildes und vermissten den klassischen Schönschrift-Unterricht von früher.
Auch Eva Lacher, Grundschullehrerin in Wertingen, bedauert, dass im Schulalltag nur noch wenig Zeit für Schönschreibübungen bliebe. Sie legt ebenfalls großen Wert auf eine saubere und leserliche Schrift. Zurzeit üben ihre Zweitklässler die verbundene Schreibschrift, nachdem sie im vergangenen Jahr das Abc in Druckbuchstaben erlernt haben. Die Reihenfolge mache durchaus Sinn, betont Rektorin Christiane Grandé: „Der Leselernprozess wird dadurch erleichtert.“Gleichwohl hat sie wie ihre Kollegin in Dillingen festgestellt, dass Kinder zur Ungenauigkeit verleitet werden. Wird ein Häkchen oder ein Bogen unter den Tisch fallen gelassen, hat das große Auswirkungen. Statt Leben könnte am Schluss ein „Lelen“auf dem Papier stehen, oder statt Buch liest man Bich ohne i-Punkt. Solche Wörter muss der Lehrer als Fehler anstreichen.
Dabei kann die vereinfachte Ausgangsschrift durchaus attraktiv aussehen: „Mir gefällt sie sehr gut, wenn sie schön geschrieben ist“, sagt Grandé. Dass Lehrer keine Schönschreibnoten mehr erteilen müssen, findet sie zeitgemäß. Persönlichkeit, zu der auch die individuelle Handschrift gehört, könne man schließlich nicht benoten.
Den Kindern das Schreiben erleichtern wollte schon Ludwig Sütterlin vor mehr als 100 Jahren. Er bekam 1911 den Auftrag des preußischen Kultusministeriums, eine neue, genormte Schrift zu entwickeln, um die damals gebräuchliche, mit vielen Schattierungen versehene Kurrentschrift abzulösen. Die Sütterlinschrift mit ihren runden Schnörkeln, klaren Linien, bauchigen Zeichen und kantigen Zacken war eine kinderfreundliche Vereinfachung. Ab 1915 führten preußische Schulen die Schrift ein.
„Die Handschrift ist eine wertvolle Kulturtechnik, ohne die wir nicht auskommen“, betont Ruth Seybold, Leiterin der Grundschule in Bächingen. Den Schülern solle am Ende der Grundschulzeit eine flüssige Handschrift mitgegeben werden. In Zeiten von Kurznachrichten über WhatsApp, Twitter oder SMS, in denen kurz, knapp und alles klein geschrieben werde, sei es ebenso wichtig, die Grammatik zu beherrschen. „Ein Brief an den Bürgermeister sollte nicht nur sauber, sondern auch richtig geschrieben sein.“
Wie einfach die Schreibschrift von heute von der Hand geht, demonstrierten Levin, Katharina, Max und Lisa an der Tafel. Die Siebenjährigen an der Bächinger Schule zählen zu den Schönschreibern in ihrer Klasse. Auch wenn es keine Noten mehr für die Leistung gibt, sei eine leserliche und schöne Handschrift nicht zu unterschätzen. Ruth Seybold: „Viele Betriebe verlangen von Schulabgängern eine Handschriftenprobe.“Ein Grund, warum sich die Schulleiterin trotz zunehmender Digitalisierung nicht um die Zukunft der Handschrift Sorgen macht. Notizen, Einkaufszettel oder Glückwunschkarten würden nach wie vor mit der Hand geschrieben.
Christiane Grandé sieht noch einen weiteren, gewichtigen Vorteil der Handschrift: „Wer selbst mit dem Stift schreibt, aktiviert sein Gehirn und merkt sich das Notierte besser.“Die relative Langsamkeit des Vorgangs unterstütze die Gedankenfindung und fordere Konzentration.
Sütterlin selbst erlebte sowohl den Aufstieg seiner Schrift als auch ihr Verbot in der Nazizeit nicht mehr. Er starb heute vor 100 Jahren.