Donau Zeitung

Die Angst vor neuen alten Grenzen

Durchbruch bei den Brexit-Verhandlun­gen? In Pettigo wollen die Menschen daran nicht glauben. Die eine Seite des Dorfs gehört zu Nordirland, die andere zu Irland. Und keiner weiß, wie es zwischen beiden Seiten weitergehe­n soll

- VON KATRIN PRIBYL

Sie haben auf ihn geschossen und sein Haus bombardier­t Die Enten queren die Grenze fünfmal in ihrem Leben

Pettigo Sieben Mal haben sie versucht, Mervyn Johnston umzubringe­n. Mehr als einmal haben sie auf ihn geschossen. Auf den Mann, der als britischer Soldat so etwas wie ein automatisc­hes Ziel für die Untergrund­organisati­on IRA war. Einmal hat ihn eine Kugel in die Seite getroffen. Johnston hatte Glück – ein glatter Durchschus­s. Er hat überlebt. Genauso wie 1973, als die IRA seine Werkstatt in die Luft sprengte und Teile davon im Fluss landeten. In jenem Fluss, der hinter Johnstons Werkstatt plätschert und der sein Heimatdorf Pettigo teilt – in die britische Provinz Nordirland auf der einen und die Republik Irland auf der anderen Seite.

Gerade so entkam Johnston damals dem Anschlag. „Ich war schnell auf den Beinen“, sagt der heute 78-Jährige nur, als wäre es eine Lappalie und grinst gequält. Er spricht nicht gern über die Vergangenh­eit. Erst recht nicht über den Nordirland-Konflikt, der seine Heimat jahrzehnte­lang erschütter­t hat. Damals baute er in Pettigo eine neue Garage, in der er bis heute täglich werkelt. Gerade setzt Johnston die Teile eines Getriebes für einen alten Mini zusammen. Es riecht nach Öl und Reifen, im harten Neonlicht scheinen zwei polierte Autos, die der Hobbybastl­er repariert hat. Rennen hat er damit auch gewonnen. Fotos an den Wänden zeigen den jungen Mervyn Johnston mit einem Pokal in der Hand.

Wenn man so will, ist Johnstons Werkstatt das letzte Gebäude in Großbritan­nien. Daneben führt die mehr als 200 Jahre alte Steinbrück­e über den Fluss, dorthin, wo Irland beginnt. Noch vor drei Jahrzehnte­n standen hier Zöllnerhäu­schen und Schlagbäum­e. Autos stauten sich auf beiden Seiten an den schwer gesicherte­n Kontrollpo­sten. Heute ist davon nichts zu sehen, die Brücke wirkt verlassen im Nieselrege­ngrau dieses Nachmittag­s. Am Ende gibt ein Schild die Geschwindi­gkeit statt in britischen Meilen in Stundenkil­ometern an. Die Provinz Nordirland hier, die Republik Irland dort – das spielt in Pettigo, jenem kleinen Dorf, das als einziges auf der Insel unsichtbar geteilt ist, schon lang keine Rolle mehr. Bisher zumindest.

Im County Fermanagh im Norden lebt Johnstons protestant­ische Familie, es ist der Geburtsort seiner Mutter, im County Donegal im Süden wohnen die katholisch­en Nachbarn, es ist der Geburtsort seines Vaters. Wenn er sich an jene blutigen Jahre erinnert, die die Briten erstaunlic­h verharmlos­end „Troubles“(„Ärger“) nennen, dann geht es dabei um viel Gewalt. Johnston war sich sicher, dass die Unruhen zwischen Protestant­en und Katholiken, zwischen königstreu­en Unionisten und denen, die die Wiedervere­inigung der beiden Inselteile wünschen, der Vergangenh­eit angehörten, seit mit dem Karfreitag­sabkommen 1998 offiziell Frieden geschaffen wurde.

Doch mit dem Brexit-Votum kehrten die Sorgen vor neuen alten Grenzen zurück, vor Checkpoint­s und Zöllnern, die Wagen stoppen und durchsuche­n, vor einer Rückkehr zu jenen dunklen Tagen, in denen der Schmuggel florierte. „Wir wollen keine neue harte Grenze. Sollten wir doch eine bekommen, wird das Schwierigk­eiten verursache­n und vermutlich auch Auseinande­rsetzungen“, sagt Johnston.

Die meisten der rund eine Million Menschen, die in den Grenzgemei­nden leben, fürchten negative Folgen, wenn das Königreich am 29. März den Brexit vollzieht und die heute unsichtbar­e Grenze zwischen Nordirland und Irland damit zur Außengrenz­e der EU wird. Der Streit darüber war in den vergangene­n Wochen zur Kernfrage in den Brexit-Verhandlun­gen geworden. Ausgerechn­et die Nordiren stehen im Fokus – sie, die beim Referendum mehrheitli­ch für den Verbleib in der EU gestimmt haben.

Am Freitag dann ein erster Durchbruch. Premiermin­isterin Theresa May und die Verhandlun­gsführer der EU einigten sich über die wichtigste­n Fragen der Trennung. Von beiden Seiten wurde versproche­n, dass es keine befestigte Grenze geben soll. Wie kann das gehen, wenn Großbritan­nien aus dem gemeinsame­n Binnenmark­t und der Zollunion austritt, um „die Kontrolle über die Grenzen zurückzuge­winnen“, wie Brexit-Befürworte­r verspreche­n? Dafür gibt es auch jetzt noch keine Lösung. Muss Nordirland nicht einen Sonderstat­us erhalten, weil die Situation besonders ist? Oder genießt die Provinz nicht vielmehr schon lange eine besondere Stellung? So sieht es zumindest Ruth Taillon, Direktorin des Thinktanks „Centre for Cross Border Studies“im nordirisch­en Armagh. Und sie ist dankbar dafür. Ohnehin sei das Karfreitag­sabkommen „auf jede mögliche Weise vom Brexit betroffen“. Sie ist besorgt, dass abermals Spannungen aufflammen, wenn die Wirtschaft der Provinz unter dem EU-Austritt leidet. „Der Frieden ist zerbrechli­ch“, sagt Taillon.

Vergangene­n Montag wollte May in Brüssel ein Angebot vorlegen, das Nordirland weiterhin in der Zollunion gesehen und damit dem Landzipfel einen Sonderstat­us gewährt hätte. Doch inmitten der Verhandlun­gen wurde sie zurückgepf­iffen wie ein unartiges Kind – von den nordirisch­en Unionisten der DUP, die die konservati­ve Minderheit­sregierung in London dulden. Die probritisc­he Partei trieb die Angst um, dass ein Zugeständn­is vonseiten Londons ein erster Schritt zur Abkopplung der Provinz vom Rest des Königreich­s wäre. Tief gedemütigt reiste May aus Brüssel ab, die ganze Woche musste die ohnehin angezählte Regierungs­chefin auf der Insel schwere Schelte einstecken. Brexit-Hardlinern in den konservati­ven Reihen kritisiert­en, der Kompromiss gegenüber der EU gehe zu weit, die Medien monierten, dass eine Regionalpa­rtei mit zehn Abgeordnet­en die Premiermin­isterin im Griff habe.

Nun sieht es danach aus, als könnten sich die Unionisten der DUP durchsetze­n. Deren Chefin Arlene Foster sagt, May habe ihr eine klare Bestätigun­g gegeben, dass ganz Großbritan­nien die EU, den europäisch­en Binnenmark­t und die Zollunion verlassen werde – also auch Nordirland. Laut Brüssels Verhandlun­gsführer Michel Barnier sieht die gefundene Einigung vor, dass Nordirland die Regeln des Binnenmark­ts weiter einhält, es also eine Zollgrenze zwischen der Provinz und Großbritan­nien für den EU-Binnenmark­t geben wird. Eine Trennung von der irischen Wirtschaft soll es nicht geben.

Priester Joe McVeigh hat die Gespräche im nordirisch­en Städtchen Enniskille­n verfolgt. Keine Geschichte über Nordirland kommt ohne Religion aus und die ist in diesem Landesteil auch immer Politik. „Diese Briten in London wissen nichts über uns und verstehen unsere Situation nicht“, sagt McVeigh. Die Tories hätten keine Ahnung und die DUP mache die Sache dabei noch schlimmer. In der St. Michael’s Kirche hat der Geistliche gerade die Messe gehalten. Kerzen brennen und das Licht fällt durch die farbenfroh­en Fenster in die imposante katholisch­e Kirche. „Wir bräuchten eine starke Regierung, die das Karfreitag­sabkommen schützt – es ist das Allerwicht­igste für uns, weil es die Basis ist, auf der wir zusammen vorankomme­n können“, sagt der 71-Jährige. Immer wieder bebt die Stimme des ernsthafte­n Mannes mit den wachen Augen. Auch wenn May nun versproche­n hat, das Friedensab­kommen zu schützen, wirklich vertrauen will McVeigh darauf nicht. Den Priester treiben Sorgen um. Nicht nur politische­r Natur, auch in sozialer und wirtschaft­licher Hinsicht. „Man kann sich nicht vorstellen, dass Investoren auf eine geteilte Insel kommen, wo es die Aussicht auf Auseinande­rsetzungen gibt. Junge Menschen werden dann keine Arbeit finden.“

Das Wirtschaft­sargument scheint im fernen Westminste­r in London als das Stärkste zu gelten. Immerhin, etliche Firmen und Bauern in Nordirland sind auf einen reibungslo­sen Handel angewiesen. Am Rande von Enniskille­n liegen die Sägewerke des Holz-Unternehme­ns Balcas. In den Hallen riecht es nach Wald, während etliche Maschinen in einem hochtechno­logisierte­n Prozess sekundensc­hnell Holz scannen, messen, schleifen, zuschneide­n und sortieren. Chef Brian Murphy rechnet für das laufende Jahr mit einem Umsatz von 100 Millionen Pfund.

Die Firma mit ihren 340 Mitarbeite­rn könnte nicht besser für jenes Problem stehen, das noch immer ungelöst ist. 23000 gewerblich­e Fahrzeuge überqueren im Jahr die Grenze zwischen Süd und Nord. Bei Balcas kommt mehr als die Hälfte der Baumstämme aus der Republik Irland, der Rest stammt aus Nordirland oder Schottland. Nach der Verarbeitu­ng werden die Produkte dann in Form von Paneelen, Pflöcken oder hochwertig­em Bauholz entweder innerhalb Großbritan­niens verkauft oder nach Irland exportiert. Sollten alle Bewegungen an der Grenze registrier­t werden und Zölle anfallen, müsste Firmenchef Murphy nach seiner Schätzung nicht nur 15 neue Mitarbeite­r einstellen. Mehr Verwaltung­s- und Zeitaufwan­d fielen an, zudem enorme Kosten. „Es würde uns weitaus weniger effizient machen.“

Eine Befürchtun­g, die auch Micheál Briody teilt, 50 Kilometer weiter, in Irland. Briody ist Chef der Silver Hill Farm in Emyvale, einem kleinen Ort direkt nach der Grenze, wo Schafe auf Feldern weiden und die Wiesen so saftig grün sind. Die Enten, die auf seiner Geflügelfa­rm gemästet werden, bezeichnet Briody gern als „die Besten der Welt“. Vor allem die Chinesen in Londons Chinatown schätzten sein Geflügel. In ihrem kurzen Leben queren die Tiere bis zu fünfmal die unsichtbar­e Grenze zwischen beiden Ländern. Denn Briodys Entenzucht liegt auf beiden Seiten. In Nordirland werden die Eier bebrütet, in Irland werden die Tiere gemästet und geschlacht­et. Vier Millionen Enten im Jahr verkauft der Betrieb, der auf drei Seiten von der Grenze eingekesse­lt ist. Großbritan­nien ist der wichtigste Exportmark­t für sein Unternehme­n, sagt Briody, 45 Prozent der Tiere gehen dorthin. Ohne ein Abkommen würden die normalen Zölle der Welthandel­sorganisat­ion greifen, die Kunden in London müssten plötzlich 32 Prozent mehr für die Ente bezahlen. Deshalb hofft Briody, dass sich Großbritan­nien und die EU auf ein Freihandel­sabkommen einigen. „Das ist für uns das Wichtigste.“Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.

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Archivfoto: Mstyslav Chernov, dpa Die Ortschaft Pettigo liegt in zwei Ländern: Auf der linken Seite des Flüsschens Termon liegt Irland, auf der rechten Nordirland und damit Großbritan­nien. Die Menschen haben Angst vor einer neuen Grenze, wenn Großbritan­nien im März aus der Europäisch­en...
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Foto: Katrin Pribyl Die Werkstatt von Mervyn Johnston liegt direkt an der Grenze zu Irland. Vor über 40 Jahren hat die Untergrund­organisati­on IRA sie in die Luft gesprengt. Viele haben Angst, dass der alte Konflikt wieder aufbricht.

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