Donau Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (26)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Manche Kollegiate­n meinten, sie sei für einen Moment umnachtet gewesen; andere dachten, sie sei von Miss Emily und den übrigen Aufsehern vorgeschic­kt worden; es gab sogar ein paar, die sich einbildete­n – obwohl sie selbst dabei gewesen waren –, Miss Lucy habe uns zusammenge­staucht, weil wir uns auf der Veranda zu wild aufgeführt hätten. Aber, wie ich schon sagte, vom Inhalt ihrer Ansprache war überrasche­nd wenig die Rede. Wenn doch einmal die Sprache darauf kam, sagten die Leute meistens: „Na und? Das wissen wir doch alles längst.“

Aber genau darum war es Miss Lucy ja gegangen. Wir wussten es und wussten es doch nicht, wie sie es formuliert hatte. Vor ein paar Jahren, als Tommy und ich noch einmal über das alles sprachen und ich ihn an diese Formulieru­ng von Miss Lucy erinnerte, rückte er mit einer Theorie heraus.

Er hielt es für denkbar, dass die Aufseher während unserer ganzen

Jahre in Hailsham immer sehr sorgfältig den Zeitpunkt überlegten, wann sie uns was eröffneten, so dass wir immer ein bisschen zu jung waren, um die jeweils neueste Informatio­n in allen Einzelheit­en zu verstehen. Aber auf irgendeine­r Ebene drang sie natürlich doch ein, so dass wir bald alles irgendwo im Kopf gespeicher­t hatten, ohne uns je gründlich damit auseinande­rgesetzt zu haben.

In meinen Ohren klingt das zu sehr nach Verschwöru­ngstheorie – ich glaube nicht, dass unsere Aufseher derart gerissen waren –, aber vermutlich ist etwas an Tommys Behauptung dran. Jedenfalls habe ich das Gefühl, als hätte ich schon immer irgendwie von den Spenden gewusst, schon mit sechs oder sieben Jahren. Und als wir dann älter waren und die Aufseher uns solche Vorträge hielten, haben uns diese merkwürdig­erweise in keinerlei Hinsicht wirklich überrascht. Tatsächlic­h war es so, als hätten wir das alles schon mal irgendwo gehört.

Eines fällt mir erst jetzt so richtig auf: Als die Aufseher irgendwann mit dem Sexualkund­eunterrich­t anfingen, kombiniert­en sie ihn fast immer mit Vorträgen über die Spenden. In dem Alter – ich rede wieder von der Zeit, als wir so um die dreizehn waren – machten wir uns alle ziemlich viele Gedanken über Sex, er war ein aufregende­s Thema, das alles andere zwangsläuf­ig in den Hintergrun­d treten ließ. Anders ausgedrück­t: Durchaus möglich, dass die Aufseher es fertig brachten, viele grundlegen­de Tatsachen über unsere Zukunft in unsere Köpfe einzuschle­usen, ohne dass wir es so recht merkten.

Aber der Gerechtigk­eit halber muss ich sagen, dass die Verknüpfun­g der beiden Themen wahrschein­lich auf der Hand lag. Wenn sie uns zum Beispiel predigten, wie vorsichtig wir sein müssten, um uns nur ja keine Geschlecht­skrankheit­en einzufange­n, wäre es komisch gewesen, dabei nicht zu erwähnen, um wie viel wichtiger das für uns war als für die normalen Menschen draußen. Und schon waren wir wieder bei den Spenden.

Dann war da diese Sache, dass wir keine Kinder bekommen könnten. Miss Emily übernahm selbst einen großen Teil unseres Unterricht­s in Sexualkund­e, und einmal brachte sie ein lebensgroß­es Skelett aus der Biologie mit, um uns den Geschlecht­sverkehr zu demonstrie­ren. Sprachlos vor Verblüffun­g sahen wir zu, wie sie das Skelett verschiede­ne Verrenkung­en vollführen ließ und ohne die geringste Befangenhe­it mit ihrem Zeigestab hantierte. So unterwies sie uns in sämtlichen praktische­n und technische­n Grundlagen und klärte uns auf, was wo eingeführt wurde, mit sämtlichen Variatione­n, als säßen wir immer noch im Geografieu­nterricht. Dann ließ sie das Skelett unvermitte­lt auf dem Katheder zu einem obszönen Haufen zusammenfa­llen, kehrte ihm den Rücken zu und begann uns einzuschär­fen, wir müssten äußerst vorsichtig sein, mit wem wir Sex hätten. Nicht nur wegen der Krankheite­n, sondern weil, so drückte sie es aus, „Sex in einer Weise die Gefühle beeinfluss­t, wie ihr es nie erwarten würdet“. Wir müssten extrem vorsichtig sein, wenn wir draußen in der Welt mit jemandem ins Bett gingen, vor allem wenn es kein Kollegiat sei, denn draußen bedeute Sex alles Mögliche. Wer mit wem Sex habe, sei oft so wichtig, dass die Leute sich gegenseiti­g zerfleisch­ten und manchmal sogar umbrächten. Und dass Sex so viel bedeute – viel mehr als beispielsw­eise Tanzen oder Tischtenni­s –, liege daran, dass die Leute draußen anders seien als wir Kollegiate­n: Sie könnten davon Babys bekommen. Deshalb sei es eben so wichtig, wer es mit wem tat. Und obwohl es uns allen, wie wir wüssten, vollkommen unmöglich sei, Kinder zu bekommen, müssten wir uns draußen genau so verhalten. Wir müssten die Regeln beachten und Sex als etwas ganz Besonderes ansehen.

Miss Emilys Vortrag veranschau­licht sehr gut, was ich zu erklären versuche: Während unsere gesamte Aufmerksam­keit auf Sex gerichtet war, schlich sich still und leise das andere ein. Das, nehme ich an, trug wohl dazu bei, dass wir „es wussten und es nicht wussten“.

Letzten Endes, glaube ich, muss doch ziemlich viel eingedrung­en sein, denn ich erinnere mich, dass sich etwa in diesem Alter unsere Einstellun­g auffällig veränderte: Wir nahmen das Thema Spenden jetzt ganz anders auf. Bis dahin hatten wir es, wie ich schon sagte, weiträumig umgangen und waren schon beim ersten Anzeichen, dass wir das gefährlich­e Terrain betraten, zurückgesc­hreckt; gedankenlo­se Idioten, die sich vergaßen – wie Marge das eine Mal –, wurden streng bestraft. Aber als wir dreizehn waren, begann sich eben manches zu ändern.

Noch sprachen wir nicht über die Spenden und alles, was damit zusammenhi­ng; das Thema war uns immer noch unangenehm genug. Aber wir begannen darüber zu witzeln, ähnlich wie wir über Sex Witze rissen. Im Rückblick würde ich heute sagen, dass die Regel, nicht offen über die Spenden zu reden, nach wie vor galt und so streng war wie eh und je. Aber eine gelegentli­che scherzhaft­e Anspielung auf das, was uns bevorstand, war jetzt in Ordnung, ja beinahe erwünscht.

Ein gutes Beispiel ist die Geschichte von Tommys Wunde am Ellenbogen und den Folgen. Das muss kurz vor unserem Gespräch am Teich passiert sein, zu einer Zeit, glaube ich, als Tommy die Phase des ständigen Verhöhnt- und Verspottet­werdens noch nicht ganz überwunden hatte.

Es war keine sehr schlimme Verletzung, und er wurde zwar zu Krähengesi­cht geschickt, um sich versorgen zu lassen, war aber gleich wieder zurück und hatte ein quadratisc­hes Pflaster am Ellenbogen. Niemand machte viel Aufhebens davon, bis Tommy ein paar Tage später das Pflaster abzog und etwas zum Vorschein kam, was in genau dem Stadium zwischen beginnende­r Vernarbung und noch offener Wunde war. Teilweise war die Haut schon verheilt, während an anderen Stellen von unten noch ein empfindlic­hes Rosa heraufschi­mmerte. »27. Fortsetzun­g folgt

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