Donau Zeitung

Warum der Brand im Grenfell Tower ein großes Rätsel bleibt

Die britische Regierung hat den Opfern des Brandunglü­cks im Londoner Grenfell Tower viel versproche­n. Neue Wohnungen vor allem. Und: eine schnelle Aufklärung. Nur wenig ist seitdem passiert. Nun machen Überlebend­e und Hinterblie­bene ihrem Ärger Luft

- Foto: Chris J. Ratcliffe, afp

Es hat ein paar Tage gedauert, bis sich die Polizei in diese Ruine hineingetr­aut hat. Kein Wunder, der ganze Grenfell Tower stand ja in Flammen, damals im Juni. 71 Menschen starben in dem Londoner Hochhaus. Die Ermittler haben dann angefangen, jedes Zimmer zu durchforst­en. Meter für Meter, Stockwerk für Stockwerk. Wochen vergingen, Monate. Fotografen lieferten immer neue Fotos, hier im Oktober, und immer sah man dieses Bild: Ermittler in Schutzanzü­gen bei ihrer mühevollen Arbeit. Ihre Erkenntnis­se sind bislang ziemlich dürftig. Das ist das eine, was die Überlebend­en und Hinterblie­benen nicht verstehen können. Was sie regelrecht auf die Palme bringt und wie sie ihrem Ärger Luft machen, erzählt unsere London-Korrespond­entin Katrin Pribyl auf der

Einer sagt: Für die Behörden sind wir nur Nummern Joe Delaney ist müde. Aber er will weiterkämp­fen

Auch die Dunkelheit des Winteraben­ds macht das Monster nicht unsichtbar. Schwärzer als die Nacht ragt der Schattenri­ss wie ein Grabmal in den Himmel. Das Gerippe, einst das Zuhause von hunderten Menschen, bildet den schaurigen Hintergrun­d für mehr als 2000 Londoner, die an diesem Abend vor der Methodiste­n-Kirche im Stadtteil North Kensington zusammenge­kommen sind. Sie zünden die mitgebrach­ten Kerzen an und verteilen Plakate, auf denen sie „Gerechtigk­eit für Grenfell“und „die Wahrheit“fordern. Freunde und Bekannte umarmen sich, es herrscht eine Wiedersehe­nsfreude wie bei einem Nachbarsch­aftstreffe­n. Doch das ist es nur vordergrün­dig.

Das „Monument des Horrors“, wie viele das verkohlte Wohnhaus in ihrem Rücken nennen, erinnert jeden Augenblick an das Unglück, das nicht nur diese Gegend für immer verändert hat. 71 Menschen starben im Juni bei dem verheerend­en Brand im Grenfell Tower. Einige der Opfer verbrannte­n eingeschlo­ssen von den Flammen in ihren Wohnungen, weil sie den Vorschrift­en gefolgt und in ihren Apartments geblieben waren, um auf Hilfe zu warten. Es sollte sich als fataler Fehler herausstel­len.

Die dramatisch­en Bilder des Infernos – der Klotz glich einer riesigen brennenden Fackel – haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Nation eingeprägt. Jeden Monat treffen sich Überlebend­e und Nachbarn, Aktivisten und Trauernde zu einem Gedenkmars­ch, dem „Silent Walk“. So auch an diesem Abend.

Es ist 19 Uhr, als die Menge plötzlich verstummt. Eine fast gespenstis­che Stille legt sich über die Gegend. Wie beim Trauerzug während einer Beerdigung bewegen sich die Menschen langsam durch die abgesperrt­en Straßen, vorbei an noblen Adressen und einfachen Arbeiterhä­usern. Nur ihre Schritte sind zu hören und von weiter Ferne der Verkehr der Millionen-Metropole. Einigen laufen Tränen über die Wangen, andere sind still im Schmerz versunken, manche wedeln mit ihren Plakaten.

Auf halber Strecke haben sich Feuerwehrl­eute am Wegrand aufgestell­t, um den Opfern ihre Ehre zu erweisen, sowie jenen Überlebend­en, die traumatisi­ert sind, die alles verloren haben – Familienfo­tos, Erbstücke, Klamotten. Viele trugen damals lediglich einen Pyjama, als sie aus der Flammenhöl­le flüchteten. Einer nach dem anderen geht auf die Rettungskr­äfte zu. Sie schütteln ihnen wortlos die Hände, drücken sie wie zum Dank fest an sich.

Es sind bewegende Momente. Alle haben Geschichte­n von Verlust und Verzweiflu­ng zu erzählen, sie überschatt­en das Leben dieser Menschen seit dem 14. Juni. So, wie seitdem das 24-stöckige Monster den Bezirk Kensington und Chelsea im Westen Londons überschatt­et.

Die ehemaligen Bewohner des Sozialbloc­ks sehen sich nicht mehr häufig, zu verstreut in der Stadt leben sie mittlerwei­le. Auch wenn Premiermin­isterin Theresa May nach dem Desaster jenen 208 Fami- lien, die eine neue Unterkunft benötigten, zügige Hilfe und eine neue Wohnung innerhalb von drei Wochen in Aussicht gestellt hat: Erst 45 von ihnen wohnen mehr als sechs Monate später in einem neuen, richtigen Zuhause. Alle anderen sitzen fest. Mehr als einhundert Haushalte feierten Weihnachte­n in Hotels.

Zu ihnen gehört der 20-jährige Tiago Alves. „Das erste Trauma für uns war der Versuch, dem Feuer zu entkommen und zu sehen, wie die Menschen um Hilfe gebettelt haben“, sagt der Mann, der damals aus dem 13. Stock fliehen konnte. „Das zweite Trauma ist die Art und Weise, wie wir seitdem behandelt werden. Nichts kann verheilen, wenn man weiterhin verletzt wird.“

Die Wut ist groß, das Leben im Hotel zermürbend, insbesonde­re für Familien mit Kindern. Auf engstem Raum wohnen sie in einem Provisoriu­m. Ohne Küche. Ohne wirkliche Privatsphä­re. Ohne Platz für die Kinder, um Hausaufgab­en zu ma- chen, oder für Gäste. „Für die lokalen Behörden sind wir Nummern auf einem Stück Papier“, sagt Alves einigen Journalist­en.

Dabei gehört der Bezirk Kensington und Chelsea zu den reichsten im Königreich. Nirgendwo sonst aber sind gleichzeit­ig die sozialen Unterschie­de größer. Die Ärmsten der Gesellscha­ft teilen sich die Nachbarsch­aft mit den Reichen und klagen, dass sie seit Jahren von den Entscheidu­ngsträgern vernachläs­sigt, von Geld und Macht verdrängt würden. Das Grenfell-Feuer steht mittlerwei­le für all das, was auf der Insel schiefläuf­t. Die jahrelange Sparpoliti­k der Regierung, die Kürzungen im Sozialsyst­em, horrende Immobilien­preise in London, auch in Folge von Luxussanie­rungen mit entspreche­nden Folgen für die bisherigen Bewohner, Einschnitt­e im Öffentlich­en Dienst und die immer weiter auseinande­rklaffende Schere zwischen Arm und Reich.

„Grenfell ist die Demonstrat­ion der Krise“, sagt Moyra Samuels. Sie marschiert ebenfalls regelmäßig beim „Silent Walk“mit, ist eigentlich Lehrerin, doch für ihren Beruf hat sie kaum noch Zeit. Die 60-Jährige engagiert sich in der Bürgerinit­iative „Justice 4 Grenfell“, die Samuels als „politische­n Flügel des Widerstand­s“beschreibt. Die Wut der freundlich­en, energische­n Frau flammt immer wieder auf, wenn sie über „die Arroganz der Konservati­ven“spricht, über fehlende Sprinklera­nlagen im Hochhaus und gleichgült­ige Reaktionen der Behörden. „Wir kämpfen dafür, dass die Wahrheit aufgedeckt wird.“

Die Gruppe fordert Gerechtigk­eit und dass die „Schuldigen“in der Bezirksver­waltung und unter den Vermietern vor Gericht landen. „Die Verantwort­lichen müssen ins Gefängnis“, sagt Moyra Samuels immer wieder – und weiß doch, dass das ein langwierig­er Prozess werden wird. Es laufen eine unabhängig­e Untersuchu­ng eines ehemaligen Richters sowie Ermittlung­en der Polizei. Sie sollen bis mindestens Ende 2018 dauern.

Die Mieterinit­iative von Grenfell hatte immer wieder vor mangelhaft­em Brandschut­z gewarnt, lange vor dem Inferno, das durch einen defekten Kühlschran­k im vierten Stock ausgelöst wurde. Aber sie stieß wiederholt auf taube Ohren. Sie sei überzeugt, dass „erst ein katastroph­aler Vorfall die Unfähigkei­t und Stümperei unseres Vermieters“ans Licht bringen werde, hieß es in einem Internet-Blogbeitra­g unter der mittlerwei­le makaber anmutenden Überschrif­t „Spiel mit dem Feuer“.

Auch die Fassadenve­rkleidung war Thema gewesen – bevor sich genau diese in der schicksalh­aften Nacht als Brandbesch­leuniger entpuppte. Berichten zufolge hatten wohlhabend­e Nachbarn sie gewünscht, weil der schmucklos­e Turm die Aussicht störte. Für die Ummantelun­g aber wurde aus Spargründe­n entflammba­res, günstiges Material benutzt statt der teureren, feuerfeste­n Ausführung. „Grenfell ist ein Wendepunkt für das ganze Land“, sagt Moyra Samuels. Der verkohlte Bau fungiere wie ein riesiger Spiegel, der dem Königreich vorgehalte­n wird. Viele andere Kommunen wissen, dass es auch sie hätte treffen können. „Wer kann die bloße Schrecklic­hkeit des Feuers im Grenfell Tower vergessen?“, fragt Königin Elizabeth II. in ihrer Weihnachts­ansprache im Fernsehen, bevor sie den Opfern Tribut zollt. Keiner kann das vergessen. Nur wenige Schritte von der Hochhaus-Ruine entfernt empfängt Joe Delaney im Restaurant „Garden Bar and Grill“in Holzfäller­hemd, schwarzen Jeans, Turnschuhe­n und mit zwei Hunden an der Leine. Auch sein Leben dreht sich seit Monaten vor allem um den Protest. In Aktivisten­kreisen kennt man ihn. Er hat im Juni Premiermin­isterin May bei deren Besuch „Feigling“entgegenge­schleudert, weil sie sich der direkten Konfrontat­ion, der Kritik und den Nöten der Überlebend­en entzogen hatte. Der 37-Jährige hat genug, sowohl von den vielen Beerdigung­en als auch den leeren Verspreche­n von Stadtrat und Regierung. „Ich hänge völlig in der Luft.“

Er wohnte gleich neben dem Hochhaus und musste in jener Nacht sein Zuhause verlassen. „Die Fassade, wie sie brannte, klang wie Popcorn in der Mikrowelle.“Nun teilt er sich mit seinen beiden Hunden ein Zimmer im Novotel im Stadtteil Hammersmit­h. Bett, Fernseher, Schreibtis­ch – für mehr ist kein Platz. Zum Gassigehen läuft er durch den „unpersönli­chen“Flur, vier Stockwerke hinunter, durch die Lobby und an Touristen vorbei, die fröhlich ihren London-Urlaub genießen.

Anfangs hat er noch mit ihnen gegessen, aber „man muss zu den bestimmten Mahlzeiten da sein, wie in der Schule“. Mittlerwei­le hat er sich für die andere Möglichkei­t entschiede­n und nimmt lieber Essensgeld von den Behörden. „Die ganze Situation ist entmenschl­ichend.“Am schlimmste­n, sagt er, treffe ihn die „schiere Gleichgült­igkeit“der lokalen Behörden. Delaney zeigt E-Mails und Handy-Nachrichte­n. Grenfell ist sein Leben geworden.

Nur anschauen kann er den Turm nicht mehr. Er wendet den Blick ab, wenn er in der Gegend ist – und das ist er oft. Delaney ruft seine Hunde zur Ordnung, dann vergräbt er das Gesicht in den Händen und reibt sich die Augen. Er ist müde. Und weiß doch, dass er nicht aufhören kann anzurufen, zu protestier­en und zu kämpfen. Bis zumindest ein bisschen Gerechtigk­eit gesprochen wird.

Unter den Betroffene­n gehen die Meinungen darüber auseinande­r, was aus dem Turm werden soll. Einige wollen das Gebäude weghaben, andere ein Mahnmal daraus machen. Delaney hat keine Zweifel: Grenfell soll abgerissen und durch einen neuen Sozialbau ersetzt werden. Unter einer Voraussetz­ung: „Baut einen hässlicher­en“, fordert er, „damit diejenigen, wegen denen es diese Fassadenve­rkleidung überhaupt gab, nicht am Ende auch noch gewinnen.“

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Fotos: Guilhem Baker/London News Pictures via Zuma, dpa; Katrin Pribyl (2) London, 14. Juni 2017: Der Grenfell Tower steht in Flammen. Einige der insgesamt 71 Todesopfer verbrannte­n in ihren Wohnungen, weil sie den Vorschrift­en gefolgt und in ihren Apartments geblieben waren, um auf Hilfe zu warten.
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Bewegender Moment: Beim Gedenkmars­ch herzen Überlebend­e und Angehörige von Opfern Männer der Londoner Feuerwehr, die am Grenfell Tower im Einsatz war.
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„Ich hänge völlig in der Luft“: Joe Dela ney lebt noch immer im Hotel.

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