Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (39)
TNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
rotzdem hab ich Recht“, fuhr Ruth fort. „Du bist sauer, weil ich’s geschafft habe, voranzukommen, neue Freunde zu finden. Manche Veteranen wissen nicht mal deinen Namen, und wie sollten sie auch? Du redest ja nie mit jemandem, der nicht aus Hailsham stammt. Aber du kannst nicht erwarten, dass ich die ganze Zeit mit dir Händchen halte. Schließlich sind wir schon fast zwei Monate hier.“Ich ging nicht darauf ein, sondern erwiderte: „Es geht nicht um mich. Auch nicht um Hailsham. Aber du schließt Tommy immer wieder aus. Ich hab euch beobachtet, allein diese Woche hast du’s mehrmals getan. Du lässt ihn einfach stehen, er muss sich ja vorkommen wie das fünfte Rad am Wagen. Das ist nicht fair. Du und Tommy, ihr seid ein Paar. Das heißt, du musst dich um ihn kümmern.“
„Ganz richtig, Kathy, wir sind ein Paar. Wie du sagst. Und wenn du dich unbedingt einmischen musst, dann sag ich dir was. Wir haben
darüber geredet und ein Abkommen getroffen. Wenn ihm nicht danach ist, mit Chrissie und Rodney was zu unternehmen, ist das seine Entscheidung. Ich zwinge ihn zu nichts, was er nicht von sich aus will. Und wir haben uns auch geeinigt, dass er mich nicht dran hindert. Aber nett von dir, dass du dir Sorgen machst.“Dann fügte sie in ziemlich verändertem Tonfall hinzu: „Im Übrigen bist du ja auch nicht gerade zimperlich, was die Bekanntschaft mit zumindest gewissen Veteranen betrifft.“Sie musterte mich aufmerksam, dann lachte sie kurz, wie um zu sagen: „Wir sind immer noch Freundinnen, nicht?“Aber ich konnte an ihrer letzten Bemerkung wirklich nichts Lustiges finden. Wortlos nahm ich mein Buch, stand auf und ging.
Kapitel 11
Ich muss wohl erklären, warum mich Ruths Bemerkung so sehr traf. Diese ersten Monate in den Cottages waren eine merkwürdige Phase in unserer Freundschaft. Wir stritten über alle möglichen Kleinigkeiten, zugleich aber vertrauten wir uns einander mehr an als je zuvor. Unsere intimsten Gespräche hatten wir kurz vor dem Zubettgehen, nur wir beide, meist in meinem Zimmer unter dem Dach der Schwarzen Scheune. Sie waren wohl eine Art Fortsetzung unserer Nachtgespräche in Hailsham. Wir konnten uns tagsüber noch so sehr verkrachen – kaum war Schlafenszeit, saßen Ruth und ich wieder einträchtig auf meiner Matratze, schlürften heißen Tee und tauschten uns über die tiefsten Gefühle und Empfindungen in unserem neuen Leben aus, als wäre tagsüber nie etwas vorgefallen. Was diese rückhaltlosen Aussprachen möglich machte – man könnte sogar sagen: was überhaupt unsere Freundschaft in dieser Zeit ermöglichte –, war die stillschweigende Übereinkunft, dass alles, was wir einander dabei anvertrauten, mit Respekt und Sorgfalt behandelt würde: dass unsere Vertraulichkeiten heilig waren und wir niemals etwas, das bei unseren abendlichen Gesprächen erwähnt worden war, später gegeneinander verwenden würden, auch wenn wir uns noch so sehr stritten. Gut, wir hatten es nie so klar definiert, aber es war eindeutig eine Abmachung, und bis zu dem Nachmittag mit der Daniel-Deronda-Sache hatte keine von uns je auch nur ansatzweise dagegen verstoßen. Deshalb war ich nicht einfach nur sauer, als Ruth sagte, ich sei in Bezug auf gewisse Veteranen ja auch nicht gerade zimperlich: Für mich war das ein Vertrauensmissbrauch. Denn was sie damit meinte, war klar; sie spielte auf etwas an, das ich ihr eines Abends gestanden hatte, und zwar im Zusammenhang mit Sex.
Wie Sie sich denken können, war Sex in den Cottages etwas ganz anderes als in Hailsham. Es ging viel direkter zu – „erwachsener“. Man ging nicht kichernd herum und tuschelte darüber, wer es mit wem getan hatte. Wenn man von zwei Kollegiaten wusste, die miteinander geschlafen hatten, brachen nicht sofort Spekulationen aus, ob sie nun ein echtes Paar würden oder nicht. Und wenn tatsächlich eines Tages ein neues Paar entstand, rannte man nicht herum und hängte es an die große Glocke. Es wurde kommentarlos hingenommen, und fortan war der andere immer mitgemeint, wenn man vom einen sprach, wie „Chrissie und Rodney“oder „Ruth und Tommy“. Auch wenn jemand mit einem Mädchen schlafen wollte, ging er viel direkter zur Sache. Ein Junge fragte ein Mädchen, ob sie „zur Abwechslung“bei ihm übernachten wollte, irgendwas in der Art, man machte nicht viel Aufhebens davon. Manchmal handelte es sich darum, dass ein Junge wirklich mit einer Frau zusammen sein wollte, manchmal ging es nur um eine einzige Nacht. Die ganze Atmosphäre war also viel erwachsener. Im Rückblick allerdings scheint mir das Liebesleben, das wir in den Cottages führten, ein bisschen funktionell. Vielleicht lag es eben daran, dass es mit der ganzen Heimlichtuerei und Tratscherei vorbei war. Oder es lag an der Kälte. Wenn ich daran zurückdenke, bringe ich Sex in jener Zeit immer nur mit eiskalten Zimmern, stockfinsterer Nacht und unendlich vielen Decken in Verbindung, wobei es oft nicht mal Decken waren, sondern ein absurdes Sortiment, das auch alte Vorhänge mit einschloss, sogar Teile von Teppichen: Manchmal wurde es so kalt, dass man einfach alles über sich auftürmen musste, was aufzutreiben war, und wenn man dort unten, auf dem Grund dieses Bettzeugs, mit einem Jungen schlief, fühlte es sich an, als hämmerte ein ganzer Berg auf einen ein, so dass man die halbe Zeit nicht sicher war, ob man es mit dem Jungen trieb oder mit diesem ganzen Zeug.
Jedenfalls hatte ich kurz nach unserer Ankunft in den Cottages ein paar solcher Nächte ohne Fortsetzung. So hatte ich es mir eigentlich nicht vorgestellt. Ich hätte mir gern Zeit gelassen, wäre gern mit jemandem zusammen gewesen, den ich mir vorher sorgfältig aussuchen konnte. Ich hatte nie eine Beziehung gehabt, aber gerade nachdem ich Ruth und Tommy schon eine Weile beobachtet hatte, war ich neugierig und wollte es gern selbst einmal versuchen. Ich hatte es also ganz anders geplant gehabt, und dass es immer wieder nur bei einer einzigen Nacht blieb, verunsicherte mich ein wenig. Eines Abends beschloss ich, mich Ruth anzuvertrauen.
Es war in vieler Hinsicht eines unserer typischen Nachtgespräche. Wir hatten unsere Teebecher mit heraufgenommen und saßen nebeneinander auf der Matratze in meinem Zimmer, wo wir wegen der Dachschräge die Köpfe einziehen mussten. Wir redeten über die verschiedenen Jungs in den Cottages und überlegten, ob einer von ihnen für mich infrage käme. Und Ruth war an dem Abend die ideale Freundin: einfühlsam, witzig, taktvoll, klug. Daher fasste ich mir ein Herz und erzählte ihr von meinen Kurzzeitaffären. Ich sagte, es sei passiert, ohne dass ich es wirklich gewollt hätte; und obwohl wir doch nicht schwanger werden könnten, habe es seltsame Folgen für mein Gefühlsleben, genau wie Miss Emily vorhergesagt hatte.