Donau Zeitung

„Die Eltern sind erstarrt“

Der Historiker Götz Aly über die 68er Jahre und die deutsche Studentenb­ewegung. Und auch darüber, wieso diese Studentenb­ewegung seiner Ansicht nach keine Heldentate­n vollbracht hat

- Taz

Wenn Sie heute an die Jahre um 1968 und an die damalige deutsche Studentenb­ewegung zurückdenk­en, was kommt Ihnen dann in den Sinn?

Götz Aly: Ich bin Jahrgang ’47, also ein typischer 68er, und zuletzt in München zur Schule gegangen. Dort schob man sich unter der Bank schon mal einen Raubdruck von Wilhelm Reichs „Die Funktion des Orgasmus“zu. Damals konnte man damit in Bayern noch Lehrer provoziere­n. Dann erinnere ich mich an die sehr schnellen Steigerung­en: Notstandsg­esetze, Polizeimor­d an Benno Ohnesorg, Mordanschl­ag auf Rudi Dutschke, dann folgend Demonstrat­ionen mit zwei Toten, die ebenfalls die Polizei auf dem Gewissen hatte.

Und dann gerieten Sie mitten in den Berliner Sturm.

Aly: Ja. Nach der Journalist­enschule in München kam ich als Volontär der

in die Außenredak­tion in Berlin und begann, parallel zu studieren. Anfangs war ich ein ganz normaler bürgerlich­er Student, habe mich dann aber sehr schnell radikalisi­ert. in einer eigentümli­chen Kälte auf, in eingeeiste­n Verhältnis­sen. Wobei ich heute glaube, dass das nach diesem allein von Deutschen verursacht­en mörderisch­en Krieg und der selbstzers­törerische­n Niederlage Deutschlan­ds gar nicht anders sein konnte.

Sie sprechen in Ihrem Buch „Unser Kampf: 1968“von „Heilschlaf“, in den die deutsche Gesellscha­ft verfallen sei. Das klingt beschönige­nd.

Aly: Was, bitte schön, hätte die Generation „Sieg Heil“denn tun sollen? Ihre Verbrechen waren so unfassbar, dass man sich ihnen nicht sofort stellen konnte. Es bedurfte zunächst einer Art von therapeuti­schem Koma. Das sah Adenauer sehr richtig.

Aber haben nicht die 68er wesentlich dazu beigetrage­n, dass Deutschlan­d aus dem Koma erwachte?

Aly: Das hatte vorher begonnen. Ich habe als 17-Jähriger – auf Anordnung des bayerische­n Kultusmini­steriums – in der Schule Filme mit den Leichenber­gen in Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald gesehen. Beim Abendessen wurde ich dann gefragt: „Na, wie war’s in der Schule?“Und da habe ich geantworte­t: „Ach, interessan­t.“Tja, und als dann „Erzähl doch mal!“folgte, da hab’ ich losgelegt. Die Eltern sind erstarrt. Ich: „Das habt ihr doch gewusst?!“Die haben 1964/65 nicht mehr damit gerechnet, mit dieser Vergangenh­eit noch einmal konfrontie­rt zu werden. Das hat sich damals in zehntausen­den deutschen Familien ähnlich abgespielt. Wir projiziert­en unsere nationalge­schichtlic­hen Traumata auf andere und verlegten sie in sichere Entfernung – immer mindestens 6000 Kilometer weit weg. raus im Nachhinein eine Heldentat zu machen. gen jüdischen Professore­n schnell an 1933 erinnert. sehr

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es eher die Generation Helmut Kohl gewesen sei, die die liberale Gesellscha­ft in Deutschlan­d vorangebra­cht habe. Also die um 1930 Geborenen, die nicht oder kaum im Krieg gewesen sind. Aly: Ja, die entscheide­nden Impulse zur Liberalisi­erung der jungen Bundesrepu­blik kamen aus dieser Generation. Dazu zählten zum Beispiel Erhard Eppler, Christian Graf von Krockow, Alexander Schwan, HansDietri­ch Genscher und Heiner Geißler. Die haben die wesentlich­en Veränderun­gen und Reformen ins Werk gesetzt. Wir waren die erste Generation, die von diesen neuen Freiheiten profitiert­e, vom Ausbau des Bildungssy­stems und vom Wohlstand.

Dennoch haben die 68er die Bundesrepu­blik nachhaltig geprägt, egal wie man nun zu ihnen steht.

Aly: Aus den Zerfallspr­odukten der 68er hat sich sicherlich auch Vernünftig­es ergeben: Ich denke an die emanzipato­rischen Bewegungen von Frauen und Homosexuel­len, an Hausbesetz­ungen, die ganze Stadtteile vor dem Abriss bewahrt haben, an die Gründung der und auch der Grünen. Aber das waren sekundäre Entwicklun­gen, die möglich waren, nachdem zum Beispiel Joschka Fischers Gruppe „Revolution­ärer Kampf“an staatliche­r und gesellscha­ftlicher Gegenwehr gescheiter­t war.

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Foto: Arno Burgi, dpa Der Holocaust Forscher Götz Aly im Jahr 2011.

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