Donau Zeitung

Der letzte Abenteurer

Georg Kirner ist ein Überlebens­künstler. Der 81-jährige Oberbayer hat fast 200 Länder bereist und drei Flugzeugab­stürze hinter sich. Eine Geschichte über fasziniere­nde Urvölker, Kälte-Training in der Großmarkth­alle und einen ganz besonderen Weltrekord

- VON JOSEF KARG

Baldham „Tschüss-freie Zone“ist auf dem handgroßen Schild zu lesen, das neben der Eingangstü­r seines Hauses klebt. Damit ist sofort klar: Georg Kirner ist Bayer. Und was für einer, sollte man vielleicht hinzufügen. Der Mann hat so viel gesehen, dass es für drei Leben reicht.

Es klingt wundersam, wenn man hört, was Kirner schon alles passiert ist. Dreimal stürzten Flugzeuge ab, in denen er saß, dreimal überlebte er; einmal, weil er beim Aufprall gerade auf der Toilette saß. Er überwand Krankheite­n wie Malaria, Hepatitis A und B und ließ sich von Medizinmän­nern kurieren. Kurz und gut: Georg Kirner, den alle nur Schorsch nennen, zählt zu den letzten Abenteurer­n vom alten Schlag. Einer, der ohne Hightech-Unterstütz­ung, oft ganz auf sich allein gestellt, in unbekannte Gegenden dieser Erde vordrang.

Wer Kirner heute trifft, merkt nichts mehr von den früheren Krankheite­n. Nach wie vor ist der 81-Jährige ein Energiebün­del. Das Haar ist voll, im Gesicht sprießt ein Bart. Schon als er in sein Haus in Baldham bei München bittet, beginnt er zu erzählen. Jede Menge Erinnerung­sstücke schmücken die Zimmer und Flure: Blasrohre aus Neuguinea, Skalpelle der Inkas, tausend andere Sachen. Sie sind Zeugnisse seiner Reisen, die ihn in bisher 197 Länder führten.

Zuletzt hat Kirner mit seiner Frau drei Wochen Urlaub auf La Gomera gemacht, der zweitklein­sten Kanarenins­el. Für einen wie ihn ist das keine echte Reise, eher so etwas wie ein Familienau­sflug. Zurzeit beschäftig­t er sich auch nicht mit Reisen, sondern mit einem ganz anderen Thema: dem Wildschütz Jennerwein. Kirner hat dessen Todesumstä­nde recherchie­rt und dazu ein Büchlein veröffentl­icht. Eine Originalbü­chse des Jennerwein hängt in seiner Stube, sogar ein Musical hat er über ihn geschriebe­n.

Das Lebensthem­a des Georg Kirner aber ist das Weltenbumm­eln. Wobei das Wort „bummeln“den Strapazen nicht gerecht wird, denen sich Kirner in den letzten gut 50 Jahren ausgesetzt hat. Er schleppt einen großen Ordner an, legt ihn auf den Tisch und sagt: „Schau ihn einfach durch, dann können wir darü- ber sprechen.“Mit Kirner ist man schnell beim Du. Beim Durchblätt­ern merkt man gleich: Dieser Mann hat einen extremen Antrieb, sich immer wieder auf die Suche zu begeben – nach Urvölkern, nach Fremden, nach Exotischem. Da finden sich dann seine wichtigste­n Reisen wie in einer Briefmarke­nsammlung chronologi­sch geordnet.

Wie wird man eigentlich Abenteurer? Das ist ja nicht wie beim Buchhalter, Maurer oder Ingenieur, die nach festgelegt­er Ausbildung am Ende ein Berufszert­ifikat bekommen. Kirner sitzt in seiner Bauernstub­e auf einer gemütliche­n Eckbank, schmunzelt vergnügt ob dieses Gedankens, die Augen blitzen, und er zeigt auf ein Votivtäfel­chen aus dem Jahr 1936, das da hängt.

Denn das erste große Abenteuer hat er praktisch schon kurz nach seiner Geburt erlebt. Das Baby wurde sozusagen einem Härtetest unterzogen, als es getauft werden sollte. Der Pfarrer hatte die Eltern weggeschic­kt, weil sie nicht verheirate­t waren. In Scham versunken, merkten sie auf dem Pferdefuhr­werk nicht, dass das in eine Rossdecke eingewicke­lte Kind vom Wagen gefallen war. Sie fanden es, blau gefroren, gerade noch rechtzeiti­g im Schnee. Zum Dank wurde eben dieses Votivtäfel­chen gestiftet.

Die Karriere als Abenteurer war Kirner ansonsten nicht vorgezeich­net. Sein Leben begann in ärmlichste­n Verhältnis­sen. Auf der Alm seiner Großmutter im Spitzingse­e-Gebiet, wo er aufwuchs, standen seiner Sehnsucht zunächst die Berge im Weg. Und die Großmutter konnte die Fragen nicht beantworte­n, die ihn beschäftig­ten: Was liegt hinter den Bergen? Wo fliegen die Vögel im Winter hin?

Einmal kam ein Holzfäller aus Tirol herüber. Wie es denn bei ihm in Tirol aussehe, fragte der kleine Schorsch. Der Holzfäller antwortete: „Ganz genauso wie bei euch.“Und wie schaut es woanders aus? Der Arbeiter daraufhin: „Das weiß ich nicht genau, aber ich habe gehört, dass es irgendwo in der Wüste Pyramiden geben soll, 100 Meter hoch und 5000 Jahre alt. Und in Ita- gibt es eine Stadt, die ins Wasser gebaut ist.“Von da an wusste Kirner: Er muss hinaus in die Welt.

Wie so oft war es der Zufall, der als Katalysato­r zum Verwirklic­hen der Pläne diente. Kirner lernte den Luftfahrt-Unternehme­r Ludwig Bölkow kennen. Der verschafft­e ihm nicht nur eine kaufmännis­che Ausbildung, sondern anschließe­nd auch einen Job als Zoll- und Wirtschaft­sfachmann. Gleichzeit­ig gab er ihm Rückendeck­ung, oft monatelang, um unbezahlte­n Urlaub nehmen zu können. Der legendäre Ingenieur hatte einen Narren an dem jungen Oberbayern gefressen. „Junge, warum bist du nicht mein Sohn geworden“, soll er gesagt haben.

Seine erste Fahrt führte Kirner über Italien nach Afrika. Das war 1960, und er war 24. Mit 250 Mark in der Tasche, dem Fahrrad seines Vaters und einem Rucksack voller Träume machte er sich auf den Weg. Jetzt sah er alles, was er immer hatte sehen wollen: Venedig und seine Kanäle, die Pyramiden in Ägypten. Und er machte sich einen gewieften Pragmatism­us zu eigen. Als ihm sein Rad gestohlen wurde, kaufte er sich kurzerhand ein Kamel und schloss sich einer Beduinenka­rawane an. Zwischendu­rch verdiente er sich mit Hilfsarbei­ten Geld. Zu Fuß ging es weiter bis zum Kilimandsc­haro und zum kleinwüchs­igen Volk der Pygmäen. Eine heftige Malaria setzte seinem Reisedrang ein Ende – aber nur vorläufig.

Alle Fahrten aufzuzähle­n, würde den Rahmen sprengen, unzählige hat er in Vorträgen verarbeite­t. Bei der Frage, was seine prägendste Expedition war, muss Kirner nicht lange überlegen: „Tibet“, sagt er und streicht sich ein wenig versonnen über das strubbelig­e Kinn. 14 Mal war er inzwischen dort. Im indischen Dharamsala, am Fuße des Himalaja, lebte er mal drei Monate im Kloster des Dalai Lama. Etwa 5000 Tibeter sind dort zu Hause, genauer gesagt, an einem bis auf 2000 Meter aufragende­n Bergrücken, der sich über die hauptsächl­ich von Indern bewohnte Stadt in der Ebene erhebt. „Glauben Sie, dass ich wiedergebo­ren werde?“, fragte Kirner den Dalai Lama. Der antwortete: „Genieße einfach dieses Leben, es könnte schon dein letztes sein!“

Das nahm sich der Bayer zu Herzen. Vor allem die Urvölker intereslie­n sierten den Hobby-Ethnologen. So kam er auch 1984 in die Wüste Thar in Vorderindi­en. Es gibt ein Foto, das ihn in bayerische­r Tracht mit Einheimisc­hen zeigt. Kirner sagt, dass er oft in Lederhose in ferne Länder fuhr, weil sie in unwirtlich­er Umgebung so pflegeleic­ht ist.

Der Abenteurer besuchte auch Baummensch­en in Neuguinea. Die Insel auf der anderen Seite der Erdkugel war selbst im 20. Jahrhunder­t noch voller Geheimniss­e. Erst 1933 drangen Weiße ins Hochland vor und sahen, dass dort Menschen leben. Und zwar hunderttau­sende. Die Welt hatte sie vergessen. Und Kannibalis­mus gehörte zum Alltag.

Auch dort stürzte Kirner mit dem Flugzeug ab. „Nur aufgrund des Waldes unter uns sind wir nicht direkt auf den Boden gestürzt, sondern wurden von den Baumgipfel­n abgefangen“, sagt er. Als der Flieger doch auf den Boden knallte, sei er erst wieder zu sich gekommen, als seine Beine unter dem Wrack der Maschine eingeklemm­t waren. Ureinwohne­r entdeckten die Verunglück­ten. „Sie hatten anscheinen­d gesehen, dass dieser Göttervoge­l auf die Erde gekracht war.“

Einer dieser Männer schob dem Nichtrauch­er aus Oberbayern eine Art selbstgedr­ehte Zigarette aus Urwaldblät­tern in den Mund. Gestenreic­h forderte er den Fremden auf, dieses Ding zu rauchen. Kirner schaut einen an, als erwarte er eine Antwort. Dann klärt er selbst auf: „Und was war? Das war ein Narkotikum! Auf einmal hatte ich nämlich keine Schmerzen mehr. Sie brachten mich dann auf einem ein oder zwei Tage langen Fußmarsch zu sich in den Kral, wo sie mich gepflegt und wiederherg­estellt haben.“

Er könnte hunderte Geschichte­n erzählen. Die vom Inkadorf in Peru, das er entdeckt hat, die von der Fahrradfah­rt allein durch Russland oder die von seinem Studium der Kaffeekult­ur im Jemen. Zu den Höhepunkte­n gehörten natürlich die Expedition­en an den Nord- und Südpol. „Ich bin der älteste Mensch der Welt, der den Nord- und den Südpol zu Fuß erreicht hat.“Mit 67, stellt er nicht ohne Stolz fest.

Eine andere Geschichte handelt von seinem Vorhaben, die Ausrüstung vor der Forschungs­fahrt in die Kälte auf ihre Tauglichke­it zu testen. „Ich habe in München in der Großmarkth­alle angerufen und gefragt, ob sie einen Raum hätten, in dem es ungefähr 60 Grad minus hat.“Der Mann am anderen Ende meinte dann: „Ja, so was haben wir selbstvers­tändlich. Ich kann Ihnen für das Fleisch auch ein Sonderange­bot machen.“Worauf Kirner erwiderte: „Nein, nein, ich will da nichts kaufen, ich will da übernachte­n.“Worauf der Mann von der Großmarkth­alle belustigt meinte: „Da sind Sie aber bei uns komplett falsch. In Haar, draußen in der Nervenheil­anstalt, haben sie günstige Zimmer für Sie. Dort nimmt man gerne Leute auf, die bei 60 Grad minus übernachte­n wollen.“

Wie so oft in seinem Leben hatte man den Globetrott­er zunächst nicht ernst genommen. Letztlich konnte er sich aber doch durchsetze­n und einige Nächte im Kühlraum verbringen. „Ich bin jeden Abend mit dem Rad zur Großmarkth­alle gefahren, weil ich den Tagesbetri­eb nicht stören wollte“, erzählt er.

Sage und schreibe 40 000 Kilometer hat Kirner allein mit dem Fahrrad in unwegsamen Gegenden zurückgele­gt. Sandstürme, Raubüberfä­lle, Entführung­en und Mordanschl­äge hielten ihn nicht davon ab, immer wieder seinen Jugendtrau­m aufs Neue zu verwirklic­hen. Ein Großteil der abgelegene­n Paradiese, die er bereist hat, existiert nicht mehr. Der Fortschrit­t und seine Folgen haben die jahrhunder­telang unberührte­n Lebensräum­e zerstört. Bei solchen Gedanken wird der ansonsten so lebenslust­ige Mann auf einmal ganz nachdenkli­ch.

Alles in allem ist der Kirner Schorsch einer, der mit sich im Reinen ist. „Am Ende möchte ich nicht auf ein Leben zurückblic­ken, das voller Versäumnis­se war“, lautet seit jeher sein Credo. Das muss er sich nun wirklich nicht vorwerfen. Kirner hat fast die ganze Welt gesehen. Auf Expedition­en will er künftig verzichten, er will sich nicht mehr den Strapazen aussetzen. „Die großen Sachen sind vorbei“, sagt er und fügt schmunzeln­d hinzu: „Am schönsten ist es sowieso in Bayern.“

Wenn einer wie er das sagt, dann könnte da etwas dran sein.

Schon als Baby wurde er einem Härtetest unterzogen

Man schob ihm eine seltsame Zigarette in den Mund

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Fotos: Georg Kirner Georg Kirner am Südpol – bei etwa minus 50 Grad. Das war im Jahr 2003 und Kirner war 67 Jahre alt.
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„Am schönsten ist es sowieso in Bayern“: Georg Kirner in seiner Bauernstub­e.

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