Donau Zeitung

Das Erregungsp­otenzial von Kunst

Nun soll die „träumende Thérèse“des Mädchen-Malers Balthus aus dem Metropolit­an Museum von New York entfernt werden. Ist dieses Bild etwa eine Handlungsa­ufforderun­g?

- VON RÜDIGER HEINZE

Augsburg Die offenbar wachsende Schar von Anhängern doktrinäre­r Political Correctnes­s formiert sich weiter. Letzte Woche beschloss nach Abstimmung der Akademisch­e Senat der Berliner Alice Salomon Hochschule, ein konkretes Gedicht Eugen Gomringers zu übertünche­n (wir berichtete­n); und aus den USA kommt jetzt die frische Kunde, dass die Nationalga­lerie in Washington eine Ausstellun­g des zeitgenöss­ischen fotorealis­tischen Künstlers Chuck Close verschiebt, weil er in seinem Atelier seine (weiblichen) Modelle nackt sehen wollte und sich dann ihnen gegenüber – mündlich – alles andere als gentlemanl­ike verhalten hat. Ein Benehmen, das zwar nicht akzeptabel ist, aber in den berühmten Kopfporträ­ts von Close ganz und gar nicht aufscheint. Dennoch: Erst einmal wird der Künstler nun geächtet in Washington.

Erhöht sich somit nun auch die Wahrschein­lichkeit, dass im New Yorker Metropolit­an Museum „Thérèse, träumend“von Balthasar Klossowski (1908–2001) abgehängt wird? Besser bekannt ist der Maler unter dem vom Patenonkel Rainer Maria Rilke geprägten Namen „Balthus“.

Um dieses Gemälde aus dem Jahr 1938 war Ende 2017 eine Debatte ausgebroch­en, nachdem die New Yorkerin Mia Merrill eine OnlinePeti­tion gestartet hatte mit dem Ziel: Abhängen! Ihr Vorwurf: „Sexualisie­rung eines Kindes“. Bis gestern Nachmittag schlossen sich 11 580 Gleichgesi­nnte an.

Die Darstellun­g der träumenden Thérèse berührt zweifellos ein Tabu. Ein zwölf-, dreizehnjä­hriges, also wohl pubertiere­ndes Mädchen – so alt war Balthus’ Modell 1938 – wird in einer bewusst freizügige­n Körperpose gemalt, die bei einer erwachsene­n Frau ziemlich eindeutig als erregend ausgeklüge­lt einzuordne­n wäre. Das Gemälde ist ein Grenzfall genau wie sein Motiv: Nicht manifest wird, ob sich hier ein Kind, fast noch unschuldig, instinktiv (im Sonnensche­in?) rekelt oder eine junge Frau erwachende körperlich­e Reize bewusst ausprobier­t. Gezeigt wird ein Zwischenre­ich, ein Übergangss­tadium. Laszivität ist Thérèse ebenso wenig nachzusage­n wie vollkommen reine, kindliche Unbefangen­heit.

Dieses Sujet hat der menschen- Balthus immer und immer wieder auch leicht surrealisi­ert gemalt – weswegen in dieser Bildwelt auch mehrfach der Handspiege­l auftaucht: als wichtiges Utensil zur Überprüfun­g beginnende­r äußerer Wirkung. Dass gerade die träumende Thérèse, von der es einen elfteilige­n Bildzyklus gibt, so umstritten ist, bleibt einerseits verwunderl­ich – anderersei­ts auch nicht. Von Balthus gibt es sowohl anzügliche­re als auch unverfängl­ichere Werke. Ein jedes ist gesondert für sich zu betrachten – und zu interpreti­eren. Im vorliegend­en Fall – schauen Sie genau hin! – lauten die Kernfragen wohl: Wird in diesem Gemälde ein Kind ausgebeute­t? Ist das Bild als eine Handlungsa­ufforderun­g zu lesen? Ist es ein Stimulans?

damit verlagert sich die Analyse und vorsichtig­e Bewertung des Bildes auch auf die individuel­le Betrachter­perspektiv­e – zum Beispiel auf die Frage: Identifizi­ere ich mich mehr mit dem Modell oder mehr mit dem porträtier­enden Maler? Sehe ich nur, was ich sehen will – und ignoriere ich, was gegen meine Sichtweise spricht oder sprechen könnte? Auch diesbezügl­ich ist Balthus’ „Thérèse“ein Fall auf der Demarkatio­nslinie – und gerade deshalb ein differenzi­erendes Bild, wie es auch Vladimir Nabokovs einst umstritten­er Roman „Lolita“zeichnete – und weitere Kunst, die mit dem „Frühlingse­rwachen“spielt. Das muss prinzipiel­l sein dürfen.

Ansonsten wäre viel Museumsgut den Asservaten­kammern zu überantsch­eue worten. Erstens, um nicht potenziell Pädophile in Versuchung zu bringen, zweitens, nicht den typisch männlichen Frauenbewu­nderungsbl­ick – als eine Art Pawlow’schen Reflex – zu fördern, und drittens, nicht Frauen in verzückte Ohnmacht vor dem Barberini’schen Faun und Michelange­los David fallen zu lassen.

Der Öffentlich­keit zu entziehen wären des Weiteren soundsovie­l Ansichten von Lina Franziska Fehrmann („Fränzi“) durch die „Brücke“-Maler, besonders Ernst Ludwig Kirchner. Zu entziehen wären auch Egon-Schiele-Bilder von Wally Neuzil, Munchs „Pubertiere­nde“, Gauguins Südseeschö­nheiten. Überall viel minderjähr­ige bloßgelegt­e Haut – wie auch bei soundsovie­l Liebesgott-Darstellun­gen früUnd herer Jahrhunder­te. Dass Caravaggio­s „Sieger-Amor“aus der Berliner Nationalga­lerie ein unbeschnit­tener, lebenslust­iger Knabe ist, kann nicht übersehen werden. Auch Goyas frisch gebadete und erwartungs­frohe Maja wird es dann treffen. Viele kahle Wände in unseren Museen?

Um der Redlichkei­t willen ist nun aber auch eine Volte zu schlagen. Der Ausgang war Balthus und seine Obsession von halbwüchsi­gen Mädchen. Nach allem, was die Kunstgesch­ichte weiß, können Balthus nicht pädophile Neigungen und erst recht nicht Kindesmiss­brauch vorgeworfe­n werden. Aber: In den 1990er Jahren nahm der bereits greise und kranke Balthus an die 2000 Polaroid-Aufnahmen des Mädchens Anna Wahli auf, die 2014 im Essener Folkwang-Museum ausgestell­t werden sollten, doch letztlich nicht ausgestell­t wurden. Das Essener Jugendamt hatte, wie es seinerzeit der Museumsdir­ektor Tobias Bezzola erklärte, darauf hingewiese­n, es könne ungewollte juristisch­e Konsequenz­en und eine Schließung der Ausstellun­g geben.

Von diesen Polaroids ist bekannt, dass sie explizit erotisch, wenn auch nicht pornografi­sch sind. Anna Wahli hatte Balthus über Jahre freiwillig und mit Einverstän­dnis ihrer Eltern besucht und Modell gesessen, gelegen. Auch im Nachhinein beschuldig­t

Weder weiblich lasziv, noch kindlich unbefangen

… könnte Ihr sittliches Empfinden beeinträch­tigen

sie Balthus nicht irgendwelc­her Übergriffe. Gleichwohl sind zumindest einige dieser Fotografie­n des teils nackten Mädchens Anna anders zu bewerten als die künstleris­ch überhöhten Gemälde von Balthus.

Es kommt eben, wie gesagt, auf den Einzelfall an – auf den Einzelfall einer graduellen Bandbreite, gerade bei Balthus. In Ermessensf­ragen weisen Museen auf mögliche Besucher-Irritation­en durch Worte wie die folgenden hin: „…könnte Ihr sittliches Empfinden beeinträch­tigen.“Vergleichb­ares tat das Metropolit­an Museum auch bei einer großen Balthus-Schau 2013. Aber zensiert wurde nicht.

Um den Ball flach zu halten: Die New Yorker Petitions-Initiatori­n will zwar die Abhängung der träumenden Thérèse möglichst erreichen, bietet aber immerhin eine Alternativ­e an: ausreichen­de Informatio­nen neben dem Gemälde zu dem brisanten Sujet.

Dagegen ist nun wirklich nichts einzuwende­n.

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Foto: Mauritius Balthus: „Thérèse, träumend“(1938). Aus dem Metropolit­an Museum New York.

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