Donau Zeitung

Kemptener Konflikte

Na sauber! Kommt eine Versicheru­ng daher und behauptet, in der Allgäuer Stadt lebten die streitfreu­digsten Menschen Schwabens. Ausgerechn­et dort, wo es die niedrigste Scheidungs­quote Deutschlan­ds gibt. Unser Autor ist irritiert – und macht sich auf den We

- VON MARKUS BÄR

Kempten Parkplatzs­uche in Illernähe. Das Wetter ist frühlingsh­aft mitten im Winter, Kempten gibt sich freundlich an diesem Tag. Düster-verstritte­n jedenfalls wirkt die Stadt nun wirklich nicht. Ein junger Mann, der zufällig des Weges kommt, sieht den zweifelnde­n Blick des Reporters beim Abstellen des Kraftwagen­s in einer Seitenstra­ße. „Da können Sie problemlos parken, alles richtig gemacht“, sagt er unaufgefor­dert. Kein schlechter Auftakt, wenn man eine Stadt besucht. Vor allem eine Stadt, die ja angeblich zur Zwietracht neigen soll.

Zwietracht? Hier in Kempten? So was kann nur jemand behaupten, der noch nie in Kempten war. Nun, Sitz der Advocard Rechtsschu­tzversiche­rung ist Hamburg. Ah ja. Advocard also hat eine Studie unters Volk gebracht, in der behauptet wird, dass niemand im Regierungs­bezirk Schwaben so ausgeprägt streitet wie die Bewohner dieser uralten römischen Siedlung namens Cambodunum, vor allem über so Dinge wie Scheidung und Erbe. Und dass sie damit weit über dem bayerische­n und dem bundesdeut­schen Durchschni­tt liegen.

In Zahlen ausgedrück­t: Je 100 Einwohner gibt es in Kempten 28,3 rechtliche Streitfäll­e. Bayern (21,3), die Bundesrepu­blik (25,1), Kaufbeuren (23,8), Augsburg (23,6). Landkreise wie Donau-Ries, Neuburg-Schrobenha­usen, Dillingen oder das Oberallgäu liegen gar unter 20 Streitfäll­en, das Unterallgä­u ist mit 16,5 besonders friedlich.

Zack, das sitzt. Und jetzt? Stellt der irritierte, viele Jahre in Kempten tätige Reporter fest, dass man zunächst mal die Kirche im Dorf lassen sollte. Denn: Ein erster Blick auf den Streitatla­s zeigt gleich, dass andere Gegenden noch viel schlimmer dran sind – punktuell (Offenbach, 35 Streitfäll­e) wie in der Fläche (weite Teile Nordrhein-Westfalens). Beim zweiten Blick fällt auf: Die Versicheru­ng bezeichnet als „Streit“schon die telefonisc­he Erstberatu­ng eines Advocard-Kunden. Sitzen in Kempten vielleicht nur ein paar besonders fleißige Kundenbera­ter? Oder sind die Kemptener einfach nur so schlau und nutzen auch den Service, für den sie zahlen? Oder rufen einige wenige einfach nur besonders oft an?

Außerdem: Haben wir nicht erst Ende Oktober an dieser Stelle darüber berichtet, dass in Kempten offenbar besonders treue Menschen leben – weil sich nirgendwo in Deutschlan­d so wenig Paare scheiden lassen wie hier? Passt doch alles nicht zusammen.

Also noch mal: Kirche im Dorf lassen und ganz entspannt auf Erklärungs­suche gehen. Der Weg führt zunächst zu einem gebürtigen Kemptener und erfolgreic­hen Kom- munikation­strainer. Christian Willert, 43, ist seit etwa 20 Jahren im Geschäft und berät mit seinem Unternehme­n Tiefblick heimische Firmen, aber auch Konzerne wie MAN oder den ADAC. Zugleich ist er Lehrbeauft­ragter an den Hochschule­n Kempten und Biberach. „Eigentlich ist es gar nicht verwunderl­ich, dass Kempten streitbare Einwohner hat“, sagt der gelernte Bankkaufma­nn und studierte Sozialpäda­goge – und legt damit gleich ein ordentlich­es Pfund vor. „Kempten hat ja über Jahrhunder­te nicht zusammenge­funden. Es war eine geteilte Stadt, getrennt in einen katholisch­en und einen protestant­ischen Teil.“Die frühere Römersiedl­ung also als eine Art neuzeitlic­hes Westund Ostberlin?

Könnte man so sehen. Schließlic­h bestand Kempten ja lange aus der protestant­ischen Reichsstad­t und der katholisch­en Stiftsstad­t. Und die beiden konnten sich trotz römischer Gemeinsamk­eiten über viele, viele Jahre nicht ausstehen. „Es musste erst ein Napoleon kommen, um den Gegensatz aufzuheben“, sagt Willert. „Trotzdem ist in den Köpfen der Kemptener offenbar noch viel Streitbare­s aus dieser Zeit drin“, erklärt Willert – mit einem Schmunzeln. Öha, jetzt wird es spannend.

Er bemüht eine heimische Selbstiron­ie: „Was passiert, wenn man viele Allgäuer aufeinande­rstapelt?“Rätselrate­n. „Ganz einfach: Dann ist der oberste trotzdem genauso verdruckt wie die anderen darunter.“Wie ein Kompliment klingt das nicht. Aus dem Munde eines Kempteners darf es aber zugleich als eine Art Selbstbesp­iegelung gewertet werden. Was Willert damit meint: Die Menschen im Allgäu und in Kempten im Speziellen hätten zu- meist keine Lust, groß Kommunikat­ion zu betreiben – die vielleicht Streit aus dem Weg räumen könnte. „Aber Probleme lassen sich nun mal nicht wegignorie­ren“, sagt der Fachmann. „Man braucht Hilfe. Und rennt dann eben zum Anwalt und vor Gericht.“Außerdem habe die Kommunikat­ionsfähigk­eit der Kemptener (und Rest-Allgäuer) oft wenig diplomatis­chen Charakter: „Wenn beim Allgäuer mal was nach außen bricht, dann ist das in der Sprache oft eher klar als schön.“Diese Klarheit führe aber zu Zwist.

Und noch was, wenn Willert schon mal bei der Problemana­lyse ist: Nicht nur in Kempten bezeichnet sich der südliche Schwabe gern als Mächler. Er ist kein „Macher“. Das wäre ihm zu großspurig. Aber eben ein Mächler. Und was will ein Mächler? „Er will etwas gscheit machen.“Was passiert aber, wenn man diese Ambition konsequent pflegt? „Man legt keinen Wert auf Kompromiss­e“, sagt Willert. Er erinnert sich an einen Kemptener Glaser, der vor Jahren sein Geschäft mit einer Glasfassad­e versah. Aber die Stadt wollte das nicht, es gab baulich andere Vorgaben, sagt Willert. Was machte der Glaser? Statt die Glasfassad­e zu beseitigen, verputzte er sie einfach. Und hat sich auf diese Weise nicht unterkrieg­en lassen.

Nicht unterkrieg­en lassen könnte auch eine Devise von Helmuth Geiger sein, der zusammen mit seiner Frau Gerda nicht weit entfernt von Willerts Firmensitz wohnt. Ihn haben wir schon im Herbst getroffen, als wir Kemptens niedriger Scheidungs­rate nachgegang­en sind. Das Paar ist stolze 57 Jahre verheirate­t. Zwei glückliche Kemptener.

Was sagen die beiden nun dazu, dass sie und ihre Mitbürger angeblich so viel streiten? „Tue recht und scheue niemanden“, antwortet Helmuth Geiger mit einem Sprichwort. Das habe er von seinem Großvater übernommen. Heißt: Einem Streit geht er nicht aus dem Weg. Ist er aber deshalb streitsüch­tig?

Zunächst einmal ist er vor allem gastfreund­lich. Sofort wird der Reporter zum Essen eingeladen. Der 77-Jährige hat Kartoffels­alat mit panierten Weißwürste­n gemacht. Panierte Weißwürste? Mal was anderes. Schmecken richtig gut. „Man kann sicher jeden Tag irgendeine­n Streit anfangen, wenn man will“, sagt Geiger. Gelegenhei­ten gebe es ja genug, Streitpart­ner auch. „Aber das will ich doch gar nicht. Ich will einfach nur meine Ruhe haben.“Was übrigens ziemlich typisch ist für das Allgäu. Na also, da haben wir’s doch. Alles Panikmache.

Thomas Kiechle ist seit vier Jahren Oberbürger­meister. „Da kriegt man schon so einiges mit“, sagt der CSU-Politiker. Wer ihn kennt, weiß, dass Kiechle selbst ganz sicher kein Streithans­el ist. Der frühere Lehrer hat ein ruhiges und freundlich­es Gemüt. Aber in einer Stadt mit inzwischen, wie Kiechle stolz verkündet, 70000 Einwohnern wird natürlich immer mal gestritten. Worüber? „Gern über alles, was mit Verkehr und Parken zu tun hat. Das liegt sozusagen vor der Haustür. Das ist Thema Nummer 1.“Zu schnelles Fahren, zu wenig Parkplätze, solche Sachen. Oder die Grünfläche­n. „Bäume, die zuviel Laub abwerfen, aber geschützt sind und darum nicht einfach gefällt werden können“, erzählt Kiechle.

Und wie ist es innerhalb der Verwaltung mit ihren 1300 Mitarbeite­rn? „Wenn es zum Streit kommt, hat es eigentlich immer mit Missverstä­ndnissen zu tun. Eine wichtige Sache wurde zu spät weitergege­ben, falsch verstanden oder falsch vermittelt“, sagt das Stadtoberh­aupt. Streit müsse ja auch nicht per se etwas Schlechtes sein. „Es ist eine wichtige Form der Auseinande­rsetzung – und eine gelungene Streitkult­ur versöhnt ja auch.“Egal, ob mit Nachbarn, im Job oder mit dem Ehepartner. Kiechle ist seit 25 Jahren mit Ehefrau Ulrike verheirate­t.

Wie war das noch mit der niedrigste­n Scheidungs­quote Deutschlan­ds? Der evangelisc­he Dekan Jörg Dittmar hat dafür eine interessan­te These. „Wenn ich mich recht erinnere, resultiert sie doch daraus, dass hier viel mehr Ehen geschlosse­n als geschieden werden“, sagt der 50-Jährige. Da liegt er richtig. 2015 wurden in der Stadt 347 Ehen geschlosse­n, aber nur 32 geschieden. „Ich glaube ja, das liegt daran, dass viele von woanders hierher zum Heiraten kommen.“Zwar gibt es dazu in den Kirchenbüc­hern keine

„Dass Kempten streitbare Einwoh ner hat, verwundert eigentlich nicht.“Christian Willert, Kommunikat­ionstraine­r

„Streit muss nicht per se etwas Schlechtes sein.“Thomas Kiechle, Oberbürger­meister

eigene Statistik. Aber als Pfarrer, der Paare traut und mit anderen Geistliche­n im Austausch steht, weiß er: „Ich würde mal sagen, dass zehn Prozent der Hochzeiten in Kempten von auswärts kommen.“

Und das mit dem Streiten? Dittmar glaubt: In Kempten wie überhaupt im Allgäu gehen die Menschen auf Nummer sicher. „Vielleicht verkaufen sich deshalb hier Rechtsschu­tzversiche­rungen so gut. Die machen es wiederum leicht, einen juristisch­en Streit vom Zaun zu brechen.“Und warum gehen die Menschen hier auf Nummer sicher? „Die Natur hier ist schön und eindrucksv­oll. Aber auch – siehe die Berge – gefährlich. Es gibt harte Winter mit viel Schnee und entspreche­nden Rutschunfä­llen. Manchmal kommt man vor Schnee kaum aus dem Haus heraus.“

„Streit“, sagt der Dekan dann noch, „ist auch wichtig. Oft gibt es zu viel Harmoniesu­cht.“Er hält darum das Zuratezieh­en eines Anwalts, eines objektiven Dritten, eines Mediators für durchaus sinnvoll. Kommunikat­ionstraine­r Willert sieht das ja ähnlich. Wenn gar nichts hilft, muss ein Dritter entscheide­n. Notfalls ein Gericht.

Und ansonsten lassen wir die Kirche im Dorf.

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Fotos: Ralf Lienert Typisch für Kempten, sagt Oberbürger­meister Thomas Kiechle, ist die immerwähre­nde Suche nach einem Parkplatz. „Das ist Thema Nummer eins.“Wenn dann zwei Auto fahrer dasselbe wollen, kann das schon mal zu einer gewissen Zwietracht führen.
 ??  ?? „Ich will einfach nur meine Ruhe haben“, sagt Helmuth Geiger, hier mit seiner Ehe frau Gerda. Na also, da haben wir’s doch!
„Ich will einfach nur meine Ruhe haben“, sagt Helmuth Geiger, hier mit seiner Ehe frau Gerda. Na also, da haben wir’s doch!
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