Kemptener Konflikte
Na sauber! Kommt eine Versicherung daher und behauptet, in der Allgäuer Stadt lebten die streitfreudigsten Menschen Schwabens. Ausgerechnet dort, wo es die niedrigste Scheidungsquote Deutschlands gibt. Unser Autor ist irritiert – und macht sich auf den We
Kempten Parkplatzsuche in Illernähe. Das Wetter ist frühlingshaft mitten im Winter, Kempten gibt sich freundlich an diesem Tag. Düster-verstritten jedenfalls wirkt die Stadt nun wirklich nicht. Ein junger Mann, der zufällig des Weges kommt, sieht den zweifelnden Blick des Reporters beim Abstellen des Kraftwagens in einer Seitenstraße. „Da können Sie problemlos parken, alles richtig gemacht“, sagt er unaufgefordert. Kein schlechter Auftakt, wenn man eine Stadt besucht. Vor allem eine Stadt, die ja angeblich zur Zwietracht neigen soll.
Zwietracht? Hier in Kempten? So was kann nur jemand behaupten, der noch nie in Kempten war. Nun, Sitz der Advocard Rechtsschutzversicherung ist Hamburg. Ah ja. Advocard also hat eine Studie unters Volk gebracht, in der behauptet wird, dass niemand im Regierungsbezirk Schwaben so ausgeprägt streitet wie die Bewohner dieser uralten römischen Siedlung namens Cambodunum, vor allem über so Dinge wie Scheidung und Erbe. Und dass sie damit weit über dem bayerischen und dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen.
In Zahlen ausgedrückt: Je 100 Einwohner gibt es in Kempten 28,3 rechtliche Streitfälle. Bayern (21,3), die Bundesrepublik (25,1), Kaufbeuren (23,8), Augsburg (23,6). Landkreise wie Donau-Ries, Neuburg-Schrobenhausen, Dillingen oder das Oberallgäu liegen gar unter 20 Streitfällen, das Unterallgäu ist mit 16,5 besonders friedlich.
Zack, das sitzt. Und jetzt? Stellt der irritierte, viele Jahre in Kempten tätige Reporter fest, dass man zunächst mal die Kirche im Dorf lassen sollte. Denn: Ein erster Blick auf den Streitatlas zeigt gleich, dass andere Gegenden noch viel schlimmer dran sind – punktuell (Offenbach, 35 Streitfälle) wie in der Fläche (weite Teile Nordrhein-Westfalens). Beim zweiten Blick fällt auf: Die Versicherung bezeichnet als „Streit“schon die telefonische Erstberatung eines Advocard-Kunden. Sitzen in Kempten vielleicht nur ein paar besonders fleißige Kundenberater? Oder sind die Kemptener einfach nur so schlau und nutzen auch den Service, für den sie zahlen? Oder rufen einige wenige einfach nur besonders oft an?
Außerdem: Haben wir nicht erst Ende Oktober an dieser Stelle darüber berichtet, dass in Kempten offenbar besonders treue Menschen leben – weil sich nirgendwo in Deutschland so wenig Paare scheiden lassen wie hier? Passt doch alles nicht zusammen.
Also noch mal: Kirche im Dorf lassen und ganz entspannt auf Erklärungssuche gehen. Der Weg führt zunächst zu einem gebürtigen Kemptener und erfolgreichen Kom- munikationstrainer. Christian Willert, 43, ist seit etwa 20 Jahren im Geschäft und berät mit seinem Unternehmen Tiefblick heimische Firmen, aber auch Konzerne wie MAN oder den ADAC. Zugleich ist er Lehrbeauftragter an den Hochschulen Kempten und Biberach. „Eigentlich ist es gar nicht verwunderlich, dass Kempten streitbare Einwohner hat“, sagt der gelernte Bankkaufmann und studierte Sozialpädagoge – und legt damit gleich ein ordentliches Pfund vor. „Kempten hat ja über Jahrhunderte nicht zusammengefunden. Es war eine geteilte Stadt, getrennt in einen katholischen und einen protestantischen Teil.“Die frühere Römersiedlung also als eine Art neuzeitliches Westund Ostberlin?
Könnte man so sehen. Schließlich bestand Kempten ja lange aus der protestantischen Reichsstadt und der katholischen Stiftsstadt. Und die beiden konnten sich trotz römischer Gemeinsamkeiten über viele, viele Jahre nicht ausstehen. „Es musste erst ein Napoleon kommen, um den Gegensatz aufzuheben“, sagt Willert. „Trotzdem ist in den Köpfen der Kemptener offenbar noch viel Streitbares aus dieser Zeit drin“, erklärt Willert – mit einem Schmunzeln. Öha, jetzt wird es spannend.
Er bemüht eine heimische Selbstironie: „Was passiert, wenn man viele Allgäuer aufeinanderstapelt?“Rätselraten. „Ganz einfach: Dann ist der oberste trotzdem genauso verdruckt wie die anderen darunter.“Wie ein Kompliment klingt das nicht. Aus dem Munde eines Kempteners darf es aber zugleich als eine Art Selbstbespiegelung gewertet werden. Was Willert damit meint: Die Menschen im Allgäu und in Kempten im Speziellen hätten zu- meist keine Lust, groß Kommunikation zu betreiben – die vielleicht Streit aus dem Weg räumen könnte. „Aber Probleme lassen sich nun mal nicht wegignorieren“, sagt der Fachmann. „Man braucht Hilfe. Und rennt dann eben zum Anwalt und vor Gericht.“Außerdem habe die Kommunikationsfähigkeit der Kemptener (und Rest-Allgäuer) oft wenig diplomatischen Charakter: „Wenn beim Allgäuer mal was nach außen bricht, dann ist das in der Sprache oft eher klar als schön.“Diese Klarheit führe aber zu Zwist.
Und noch was, wenn Willert schon mal bei der Problemanalyse ist: Nicht nur in Kempten bezeichnet sich der südliche Schwabe gern als Mächler. Er ist kein „Macher“. Das wäre ihm zu großspurig. Aber eben ein Mächler. Und was will ein Mächler? „Er will etwas gscheit machen.“Was passiert aber, wenn man diese Ambition konsequent pflegt? „Man legt keinen Wert auf Kompromisse“, sagt Willert. Er erinnert sich an einen Kemptener Glaser, der vor Jahren sein Geschäft mit einer Glasfassade versah. Aber die Stadt wollte das nicht, es gab baulich andere Vorgaben, sagt Willert. Was machte der Glaser? Statt die Glasfassade zu beseitigen, verputzte er sie einfach. Und hat sich auf diese Weise nicht unterkriegen lassen.
Nicht unterkriegen lassen könnte auch eine Devise von Helmuth Geiger sein, der zusammen mit seiner Frau Gerda nicht weit entfernt von Willerts Firmensitz wohnt. Ihn haben wir schon im Herbst getroffen, als wir Kemptens niedriger Scheidungsrate nachgegangen sind. Das Paar ist stolze 57 Jahre verheiratet. Zwei glückliche Kemptener.
Was sagen die beiden nun dazu, dass sie und ihre Mitbürger angeblich so viel streiten? „Tue recht und scheue niemanden“, antwortet Helmuth Geiger mit einem Sprichwort. Das habe er von seinem Großvater übernommen. Heißt: Einem Streit geht er nicht aus dem Weg. Ist er aber deshalb streitsüchtig?
Zunächst einmal ist er vor allem gastfreundlich. Sofort wird der Reporter zum Essen eingeladen. Der 77-Jährige hat Kartoffelsalat mit panierten Weißwürsten gemacht. Panierte Weißwürste? Mal was anderes. Schmecken richtig gut. „Man kann sicher jeden Tag irgendeinen Streit anfangen, wenn man will“, sagt Geiger. Gelegenheiten gebe es ja genug, Streitpartner auch. „Aber das will ich doch gar nicht. Ich will einfach nur meine Ruhe haben.“Was übrigens ziemlich typisch ist für das Allgäu. Na also, da haben wir’s doch. Alles Panikmache.
Thomas Kiechle ist seit vier Jahren Oberbürgermeister. „Da kriegt man schon so einiges mit“, sagt der CSU-Politiker. Wer ihn kennt, weiß, dass Kiechle selbst ganz sicher kein Streithansel ist. Der frühere Lehrer hat ein ruhiges und freundliches Gemüt. Aber in einer Stadt mit inzwischen, wie Kiechle stolz verkündet, 70000 Einwohnern wird natürlich immer mal gestritten. Worüber? „Gern über alles, was mit Verkehr und Parken zu tun hat. Das liegt sozusagen vor der Haustür. Das ist Thema Nummer 1.“Zu schnelles Fahren, zu wenig Parkplätze, solche Sachen. Oder die Grünflächen. „Bäume, die zuviel Laub abwerfen, aber geschützt sind und darum nicht einfach gefällt werden können“, erzählt Kiechle.
Und wie ist es innerhalb der Verwaltung mit ihren 1300 Mitarbeitern? „Wenn es zum Streit kommt, hat es eigentlich immer mit Missverständnissen zu tun. Eine wichtige Sache wurde zu spät weitergegeben, falsch verstanden oder falsch vermittelt“, sagt das Stadtoberhaupt. Streit müsse ja auch nicht per se etwas Schlechtes sein. „Es ist eine wichtige Form der Auseinandersetzung – und eine gelungene Streitkultur versöhnt ja auch.“Egal, ob mit Nachbarn, im Job oder mit dem Ehepartner. Kiechle ist seit 25 Jahren mit Ehefrau Ulrike verheiratet.
Wie war das noch mit der niedrigsten Scheidungsquote Deutschlands? Der evangelische Dekan Jörg Dittmar hat dafür eine interessante These. „Wenn ich mich recht erinnere, resultiert sie doch daraus, dass hier viel mehr Ehen geschlossen als geschieden werden“, sagt der 50-Jährige. Da liegt er richtig. 2015 wurden in der Stadt 347 Ehen geschlossen, aber nur 32 geschieden. „Ich glaube ja, das liegt daran, dass viele von woanders hierher zum Heiraten kommen.“Zwar gibt es dazu in den Kirchenbüchern keine
„Dass Kempten streitbare Einwoh ner hat, verwundert eigentlich nicht.“Christian Willert, Kommunikationstrainer
„Streit muss nicht per se etwas Schlechtes sein.“Thomas Kiechle, Oberbürgermeister
eigene Statistik. Aber als Pfarrer, der Paare traut und mit anderen Geistlichen im Austausch steht, weiß er: „Ich würde mal sagen, dass zehn Prozent der Hochzeiten in Kempten von auswärts kommen.“
Und das mit dem Streiten? Dittmar glaubt: In Kempten wie überhaupt im Allgäu gehen die Menschen auf Nummer sicher. „Vielleicht verkaufen sich deshalb hier Rechtsschutzversicherungen so gut. Die machen es wiederum leicht, einen juristischen Streit vom Zaun zu brechen.“Und warum gehen die Menschen hier auf Nummer sicher? „Die Natur hier ist schön und eindrucksvoll. Aber auch – siehe die Berge – gefährlich. Es gibt harte Winter mit viel Schnee und entsprechenden Rutschunfällen. Manchmal kommt man vor Schnee kaum aus dem Haus heraus.“
„Streit“, sagt der Dekan dann noch, „ist auch wichtig. Oft gibt es zu viel Harmoniesucht.“Er hält darum das Zurateziehen eines Anwalts, eines objektiven Dritten, eines Mediators für durchaus sinnvoll. Kommunikationstrainer Willert sieht das ja ähnlich. Wenn gar nichts hilft, muss ein Dritter entscheiden. Notfalls ein Gericht.
Und ansonsten lassen wir die Kirche im Dorf.