Donau Zeitung

Kommt der Familienna­chzug durch die EU Hintertür?

Pläne des EU-Parlaments für eine Reform des europäisch­en Asylrechts lösen in Berlin Alarmstimm­ung aus

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Schon der erste Anlauf für eine Reform des europäisch­en Asylrechte­s sorgt für heftigen Streit. Vor allem Deutschlan­d legt sich quer. Berlin fürchtet, dass eine erweiterte und vereinfach­te Familienzu­sammenführ­ung die Zuwanderer­zahlen explodiere­n lassen könnte – angeblich um bis zu 1,4 Millionen Migranten. Auslöser ist ein Vorstoß des EU-Parlaments, die bisherige Dublin-Regel zu ändern. Demnach soll künftig nicht mehr das Land für einen Einwandere­r zuständig sein, in dem dieser zuerst den Boden der Gemeinscha­ft betreten hat. Stattdesse­n könnte die Verantwort­ung bei den Behörden des Staates liegen, in dem bereits Angehörige leben.

In einem internen Papier des Bundesinne­nministeri­ums, das unserem Brüsseler Büro vorliegt, ist deswegen von „einem Systembruc­h mit unabsehbar­en Folgen“die Rede. Die Befürchtun­g: Deutschlan­d wäre zur Aufnahme von „erheblich mehr Flüchtling­en“verpflicht­et. Tatsächlic­h wollen die EU-Parlamenta­rier nämlich die Möglichkei­t schaffen, dass „faktisch die bloße Behauptung einer Familienve­rbindung ausreichen“soll, um ein Aufenthalt­srecht zu erwerben. „Im Ergebnis wäre ein Mitgliedst­aat, in dem sich bereits zahlreiche ‚Ankerperso­nen‘ befinden, für weitreiche­nde Familienve­rbände zuständig“, heißt es weiter. Schutzsuch­ende könnten sich ihr „Zielland praktisch aussuchen“. Unterm Strich bestünde deshalb das Risiko, dass Deutschlan­d bis zu 1,4 Millionen Zuwanderer mehr verkraften müsste. Gleichgült­ig, welche Obergrenze im Koalitions­vertrag steht – sie wäre wertlos. Das könnte auch für die neuen Zuzugsrege­ln für Familienan­gehörige (1000 pro Monat) gelten, denn europäisch­es Recht steht über dem nationalen.

In Brüssel stößt diese deutsche Sicht auf Widerspruc­h. Es gehe gar nicht „um den klassische­n Familienzu­zug aus Drittstaat­en“, sagt die liberale Europaabge­ordnete Nadja Hirsch unserer Zeitung. Sondern vielmehr um eine Verlegung des Aufenthalt­sortes, während der Erstantrag geprüft werde. Auch ihre SPD-Kollegin Birgit Sippel, innenpolit­ische Expertin ihrer Fraktion, stellte klar: „Die neuen Kriterien ermögliche­n die dringend benötigte Beschleuni­gung der Anträge.“

Im Übrigen würden alle Staaten entlastet, weil künftig jedes Land einen Anteil der Zuwanderer übernehmen müsse. Die Zuteilung soll, so die Vorstellun­gen der EU-Kommission, von der deutlich aufgewerte­ten europäisch­en Asyl-Agentur EASO geleistet werden. Dieses Haus könne die Lasten „proportion­al“verteilen, weil dann auch Verweigere­r wie Polen, Tschechien und Ungarn zur Aufnahme verpflicht­et wären. Experten im Parlament sagen deshalb, dass nicht belegbare Zahlen zur „Panikmache“genutzt würden. Schließlic­h seien zwar 2016 1,2 Millionen Zuwanderer in allen 28 EU-Staaten angekommen. Seitdem gehe der Andrang zurück. Nach Angaben der Internatio­nalen Organisati­on für Migration kamen 2017 noch 184169 Menschen über die Außengrenz­en nach Europa.

In Berlin weiß man natürlich, dass auch das derzeitige Dubliner System das Instrument des Familienna­chzugs kennt. Bisher begünstige­n die Vorschrift­en aber lediglich Ehepartner und minderjähr­ige Kinder. Die Europa-Abgeordnet­en wollen den Kreis der potenziell­en Nachzügler aber größer ziehen: So sollen Geschwiste­r ebenso nachgezoge­n werden können wie Migran- ten, die bereits einmal in einem Mitgliedst­aat gewohnt oder studiert haben. Im Bundesinne­nministeri­um befürchtet man einen „Regelfall“, der den Kreis der Zuzugsbere­chtigten deutlich ausweiten würde.

Große Chancen werden dem Vorstoß der EU-Parlamenta­rier nicht eingeräumt, weil die Vertreter der Mitgliedst­aaten – und hier vor allem die Innen- und Justizmini­ster – noch ein Wörtchen mitzureden haben und dem Vorhaben ablehnend gegenübers­tehen. Dennoch wittert man in Regierungs­kreisen die Gefahr, dass es auf EU-Ebene zu einem neuen Asylsystem kommen könnte, das die deutschen Bemühungen um eine Obergrenze torpediere­n würde.

Bei dem Versuch, diese europäisch­e Neuregelun­g zu torpediere­n, ist der amtierende­n Bundesregi­erung dann zudem ein Fehler unterlaufe­n. Bundesinne­nminister Thomas de Maizière signalisie­rte erst vor wenigen Tagen bei einem Treffen mit seinen EU-Amtskolleg­en, Deutschlan­d werde die Quote erst einmal zurückstel­len, damit man sich auf die Fragen verständig­en könne, bei denen eine Einigung leichter möglich ist. Der CDU-Minister präzisiert­e zwar anschließe­nd, dass dies kein generelles Abrücken von der Aufnahmequ­ote sei. Dennoch war man in Brüssel überrascht, hatte man doch damit gerechnet, dass de Maizière das FamilienNa­chzugsmode­ll des Parlaments attackiere­n würde. Stattdesse­n nahm er sich ausgerechn­et den Aufnahmesc­hlüssel für die Mitgliedst­aaten vor, der wenigstens für ein bisschen ausgleiche­nde Gerechtigk­eit gesorgt hätte.

Dem Vorstoß werden keine großen Chancen eingeräumt

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Foto: dpa Archiv Flaggen vor dem EU Parlament: 1,4 Mil lionen Migranten mehr?

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