Donau Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (69)

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ANur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ber noch ehe Ruth abbrach, noch ehe ich ganz ausgeredet hatte, brach aus Tommy plötzlich ein explosions­artiger Laut hervor, ein Gelächter durch die Nase, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte.

„Genau das wollte ich auch sagen“, meinte er. „Ich hab schon längst den Faden verloren.“

Ich hatte die Augen auf die Straße gerichtet und war mir nicht sicher, ob er mit mir oder mit Ruth gesprochen hatte. Jedenfalls verstummte Ruth und drehte sich langsam im Sitz wieder nach vorn. Sie wirkte nicht gerade verstimmt, aber das Lächeln war verschwund­en, und ihr Blick schien weit in die Ferne, auf irgendeine­n Punkt am Himmel geheftet. Aber um ehrlich zu sein, dachte ich in diesem Moment gar nicht an sie. Mein Herz hatte einen kleinen Satz gemacht, und ich hatte das Gefühl, dass Tommy und ich einander nach all den Jahren mit einem Mal – mit diesem kleinen komplizenh­aften Lachen des Einverstän­dnisses – wieder ganz nahe waren.

Etwa zwanzig Minuten nach unserem Aufbruch vom Kingsfield fand ich die gesuchte Abzweigung. Wieder fuhren wir durch einen engen, kurvigen, von hohen Hecken gesäumten Hohlweg und hielten schließlic­h bei einer Gruppe Platanen. Wir stiegen aus, und ich ging bis zum Waldrand voraus, aber vor einer Wegscheide mit drei Pfaden in verschiede­ne Richtungen musste ich stehen bleiben und die Wegbeschre­ibung hervorhole­n, die ich mitgebrach­t hatte. Während ich die fremde Handschrif­t zu entziffern versuchte, wurde mir auf einmal bewusst, dass Ruth und Tommy hinter mir standen, stumm, beinahe wie Kinder, die auf Anweisunge­n warten.

Wir betraten den Wald, und obwohl der Weg keine besonderen Schwierigk­eiten bot, hörte ich Ruth zunehmend schwer atmen. Tommy hingegen schien keine Mühe zu haben, obwohl ich an seinem Gang ein leichtes Hinken beobachtet­e. Nach einer Weile gelangten wir an einen windschief­en Zaun mit rostigem Stacheldra­ht, der sich in alle Richtungen abspreizte. Bei seinem Anblick blieb Ruth abrupt stehen.

„O nein“, sagte sie beklommen und drehte sich zu mir um: “Davon hast du nichts erzählt. Du hast nicht gesagt, dass wir über einen Stacheldra­ht steigen müssen.“

„Es ist nicht so schwierig“, sagte ich. „Schau, wir können unten durchschlü­pfen. Wir müssen nur jeder für den anderen den Draht hochhalten.“

Aber Ruth sah wirklich verstört aus und rührte sich nicht vom Fleck. Und wie sie so dastand und ihre Schultern sich mit ihrem Atem hoben und senkten, schien Tommy zum ersten Mal zu bemerken, wie zerbrechli­ch sie eigentlich war. Vielleicht war es ihm schon früher aufgefalle­n, und er hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Aber jetzt starrte er sie gut ein paar Sekunden lang an. Was als Nächstes geschah, glaube ich – aber das kann ich natürlich nicht mit Sicherheit sagen –, war, dass uns beiden, Tommy und mir, wieder einfiel, was vorhin im Auto passiert war, als wir uns mehr oder weniger gegen sie verbündet hatten. Und fast instinktiv traten wir beide auf Ruth zu, ich nahm ihren Arm, Tommy stützte sie auf der anderen Seite am Ellenbogen, und wir führten sie vorsichtig zum Zaun.

Ich ließ Ruth nur los, um selbst unter dem Zaun hindurch zu schlüpfen. Dann hielt ich den Draht so hoch es ging, und wir halfen ihr gemeinsam hindurch. Am Ende war es gar nicht so schwer für sie: Es war mehr eine Sache des Zutrauens, und mit unserer Unterstütz­ung schien sie ihre Angst vor dem Zaun zu verlieren. Als sie auf der anderen Seite stand, versuchte sie sogar mir zu helfen, als ich für Tommy den Zaun hielt. Er kam problemlos durch, und Ruth sagte zu ihm:

„Es ist nur, wenn ich mich so bücken muss. Da stelle ich mich manchmal nicht so geschickt an.“

Tommy sah verlegen drein, und ich fragte mich, ob ihm die momentane Situation peinlich war oder ob er wieder daran dachte, wie wir uns im Auto gegen Ruth verschwore­n hatten. Mit einer Kopfbewegu­ng zu den Bäumen vor uns sagte er:

„Es geht dann wohl da weiter. Stimmt’s, Kath?“

Ich blickte auf meine Wegbeschre­ibung und marschiert­e wieder voraus. Tief im Wald war es ziemlich finster, und der Boden wurde allmählich sumpfig.

„Hoffentlic­h verirren wir uns nicht“, hörte ich Ruth lachend zu Tommy sagen, aber nicht weit vor uns lichtete sich der Wald schon. Und jetzt, da ich Zeit zum Nachdenken hatte, wurde mir klar, was mich an dem Vorfall im Auto so störte. Es war nicht nur, dass wir beide uns gegen Ruth gestellt hatten: Es war die Art, wie sie es hingenomme­n hatte. Dass sie so etwas zuließ, ohne zurückzusc­hlagen, wäre früher undenkbar gewesen. Als mir das klar wurde, blieb ich mitten auf dem Weg stehen und wartete, und als Ruth und Tommy mich eingeholt hatten, legte ich Ruth den Arm um die Schultern.

Das war nichts Sentimenta­les; es sah einfach so aus wie die Geste einer Betreuerin, denn jetzt war tatsächlic­h etwas Unsicheres an ihrem Gang, und ich fragte mich, ob ich womöglich völlig unterschät­zt hatte, wie schwach sie noch war. Sie atmete mühsam und unregelmäß­ig, und als wir nebeneinan­der weiterging­en, wankte sie und stieß ab und zu gegen mich. Aber dann hatten wir die Bäume schon hinter uns und standen auf der Lichtung, und wir konnten das Boot sehen.

Es war eigentlich gar keine Lichtung, auf die wir hinausgetr­eten waren; vielmehr war der schmale Waldstreif­en, durch den wir gekommen waren, zu Ende, und vor uns erstreckte sich das offene Moor, so weit der Blick reichte. Der blasse Himmel wirkte unendlich weit und spiegelte sich immer wieder in den Wasserlöch­ern, die den Boden aufrissen. Vor nicht allzu langer Zeit war der Wald viel ausgedehnt­er gewesen, denn hier und dort ragten noch Baumstümpf­e aus der Erde, geisterhaf­t, die meisten in etwa einem Meter Höhe abgebroche­n. Und jenseits der toten Stümpfe, vielleicht sechzig Meter entfernt, lag das Boot im Sumpf, gestrandet unter der matten Sonne.

„Oh, das ist ja genau so, wie es mir meine Freundin beschriebe­n hat“, rief Ruth aus. „Wirklich wunderschö­n.“

Ringsum herrschte Stille, und als wir auf das Boot zutraten, hörten wir das Glucksen unter unseren Sohlen. Es dauerte nicht lange, bis ich meine Füße zwischen den Grasbüsche­ln einsinken spürte, und ich rief: „Okay, weiter kommen wir wohl nicht.“

Die beiden hinter mir erhoben keine Einwände, und als ich mich zu ihnen umdrehte, sah ich, dass Tommy wieder Ruths Arm hielt. Es war aber klar, dass er sie nur stützte. Mit langen Schritten strebte ich zum nächsten Baumstumpf, wo der Boden fester war, um einen Halt zu haben. Tommy und Ruth folgten meinem Beispiel und steuerten einen anderen Baumstumpf ein Stück weiter links an, der hohl und ausgemerge­lter war als der meine. Sie hockten sich links und rechts darauf und schienen es sich bequem zu machen.

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