Wer bin ich? Und was ist der Sinn?
Vor 75 Jahren erschien Jean-Paul Sartres „Das Sein und das Nichts“. Abenteuerlich, wie daraus die „Bibel der Existenzialisten“wurde. Vor allem aber: Das Werk hat uns gerade heute Wesentliches zu sagen
Diese Antwort auf die existenziellen Fragen des Menschseins: Sie erhob sich mitten aus dem größten Morden der Geschichte; sie prägte in der langen Nachkriegszeit das Denken, das Leben, die Kunst, und sie wurde im „Existenzialisten“-Chic samt schwarzem Rollkragenpullover zum Pop-Phänomen; aber sie hat in ihrem Kern auch Wesentliches gerade zu den drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts zu sagen. Ob im Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkrieges oder im globalen Kulturbruch durch Digitalisierung und Globalisierung: Zwischen Soldat, Industriearbeiter und Roboter – was ist der Mensch? Zwischen Umweltprägung, Genetik und Big Data – worin besteht seine Freiheit? Zwischen Gottlosigkeit und Turbokapitalismus – woher soll Sinn im menschlichen Leben kommen?
Der Philosoph und Literat JeanPaul Sartre hat in seinem vor nun 75 Jahren erschienenen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“grundlegende Antworten versucht. Das Buch wurde zur „Bibel der Existenzialisten“, er selbst an der Seite von Simone de Beauvoir und nebst Albert Camus zum maßgeblichen, zum Kult-Denker jener Zeit.
Doch am Anfang stand eine abenteuerliche philosophische Verwicklung mit politischer Sprengkraft. Es begann 1933, als Sartre, damals bereits Ende 20 und noch Lehrer in der Provinz, nach Berlin reiste. Während die Nazis die Macht übernahmen, studierte er die Gedanken des Philosophen Edmund Husserl, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung als Rektor entlassen worden war. Und gerade da trat dessen Schüler die Nachfolge mit einem völkischen, vom Führerglauben beseelten Vortrag an: Martin Heidegger. Als Sartre acht Jahre später als Soldat an der Front bereits nach wenigen Monaten in Gefangenschaft gerät, fällt ihm in der spärlichen Bibliothek des Lagers ein für sein künftiges Denken entscheidendes Werk in die Hände: „Sein und Zeit“, von eben jenem Heidegger, bereits 1927 erschienen.
Husserl hatte Mensch und Bewusstsein in seiner „Phänomenologie“zurück an die ihn umgebende Welt gebunden, Heidegger dagegen die Besonderheit der menschlichen Existenz herausgearbeitet: die Verlorenheit, in der er sich vorfindet, und die Selbstermächtigung, die das von ihm verlangt. Bevor er als Parteigänger der Nazis und Antisemit eine Lösung der existenziellen Nöte durch Volk und Führer erhoffte.
Sartre nun (der sich als drittes H auch noch Begriffe von Hegel aneignet) vertiefte sich in die Kluft zwischen Husserls Weltbezug und Heideggers früher Bewusstseinslehre. Und philosophisch ansetzend bei der existenziellen Einsamkeit des Menschen: Wo landet er in der gesellschaftlichen Wirklichkeit? Wie sein Impulsgeber Heidegger: im Extrem. Aber auf der Gegenseite, links. Der spätere Sartre nämlich flirtet heftig mit dem Marxismus, der Internationalen, der Revolte, und er versucht sich in seinem zweiten Großwerk, „Die Kritik der dialektischen Vernunft“, dazu passend auch als Geschichtsphilosoph.
wie sich Heidegger letztlich von der Primitivität der Nazis abwandte (und den Rückzug in den Schwarzwald antrat), endete zwar auch Sartres Besuch bei den inhaftierten RAF-Terroristen in Stammheim in gegenseitiger Befremdung. Aber die Frage ist mit den Wegen beider in der Welt: Die Verlorenheit des modernen Menschen konsequent zu Ende gedacht – mündet sie in die Anfälligkeit für politische Heilsversprechen? Führt der Existenzialismus in die Gefahr des Totalitarismus? Damals wie heute? Dabei ist „Das Sein und das Nichts“doch vor allem eine Schrift zur Behauptung der menschlichen Freiheit und Würde. Nach Sartres baldiger Entlassung aus der Gefangenschaft im Pariser Café de Flore vollendet und 1943 trotz aller Papierknappheit erschienen, entfaltete das Werk nach Kriegsende große Wirkung: Auf die politische Befreiung folgte die philosophische.
Was schrieb Sartre?
Das Sein
Es gilt, einen anderen Blick auf den Menschen zu gewinnen als auf alles andere in der Welt. Wer ihn nämlich durch seine Eigenschaften beschreibt und durch seine Verhaltensmuster erklärt, macht ihn zum Gegenstand, einem Objekt, einem Sein „an sich“. Unweigerlich wird der Mensch im Auge seines Gegenübers zu einem solchen Objekt. Darum gilt auch, wie Sartre im Schauspiel „Geschlossene Gesellschaft“später schreibt: „Die Hölle, das sind die anderen.“Den anderen Blick zu gewinnen heißt also, sich vom Sein „an sich“zu befreien und statt dessen Sein „für sich“zu gewinnen, das Ich zu behaupten, betont als Subjekt zu leben. Ein ständiger AbwehrSo, kampf gegen die Einordnung durch den Blick der anderen und die Objektivität des äußeren Lebens.
Das Nichts
Die Möglichkeit zu einer Befreiung zu sich selbst hat allein der Mensch, weil mit ihm das Nichts in die Welt kommt. Denn bei Sartre bedeutet das: die entscheidende Leerstelle, eine Entwicklungsmöglichkeit. Wir vergeben sie, wenn wir ausschließlich in den gesellschaftlichen Rollen aufgehen, in die wir hineinwachsen – ob im Beruf oder in Beziehungen. Denn eigentlich hat der Mensch mit seinem Ich-Bewusstsein die Fähigkeit, über sich selbst und diese Beschränkung hinauszugehen. Er kann sich selbst neu entwerfen – und wie im künstlerischen Akt schafft er dadurch neue Sinnzusammenhänge, schafft Sinn. Den einzig möglichen in einer gottlosen und an sich sinnlosen Welt.
Das oft zitierte Wort des Existenzialisten, wir seien „zur Freiheit
„Zur Freiheit verurteilt“, das heißt: Wir müssen wählen
verurteilt“meint nämlich: Wir besitzen als Menschen unweigerlich die Möglichkeit des allein sinnspendenden Selbstentwurfs. Auch wenn wir uns davor verstecken, sie nicht wollen, uns zu ängstlich oder zu schwach dafür fühlen, in der Situation gefangen, die das konkrete Leben freilich stets ausmacht – trotzdem wissen wir um unsere Wahl…
Im Kult-Zeitalter des Existenzialismus, bei den sogenannten 68ern, wurde das entweder als Aufruf zum Abwerfen gesellschaftlicher Zwänge verstanden – oder als melancholischer Grund zum Rückzug in sich selbst. Heute stehen wir im multimedialen, alles erfassenden und messenden Zeitalter womöglich wieder an einem existenziellen Punkt: dem der Selbstbehauptung. „Für sich“sein heißt: Die Freiheit, die Würde des Einzelnen wahren als Grundlage des Menschseins. Das richtet sich gegen jeden politischen oder digitalen Totalitarismus, aber auch gegen das ökonomische Effizienzrechnen – und gegen Selbstoptimierung. Denn darin versteht sich das Ich in der Regel selbst bloß als „an sich“mit zu steigernden Werten in Attraktivität, Gesundheit, Glück. Aber Sinn macht das alles nicht. schön dreisilbig wie abgrundtief, gnadenlos und anstandslos, aber doch trocken wie das Innere einer Schreibtischschublade.
„Sachgrundlose Befristung“von Arbeitsverhältnissen ist gerade einer dieser grundsätzlichen Streitpunkte im Prä-GroKo-Zeitalter, das inzwischen (grundsolide Sondierungen!) bereits fast so lange währt und ähnlich dramatisch ist wie das Holozän. Was ist das sprachliche Gegenteil von sachgrundlos? Sachgrundbasiert? Sachgrundberechtigt? Sachgrundvoll? Uferlos? Bitte sachdienliche Hinweise unter #sachgrundlos.
Es ist hier nicht der Ort, ins TzBfG einzusteigen. Aber das isolierte Wort lässt einen schwer wieder los. Nicht als Substantiv („Trägt sein schweres Sachgrundlos mit Fassung“), und als Verb („Sachgrundlosen Sie doch hier nicht so rum!“) auch nicht. Und mit Wehmut erinnert man sich an sachgrundlose Haltlosigkeit