Donau Zeitung

Wer bin ich? Und was ist der Sinn?

Vor 75 Jahren erschien Jean-Paul Sartres „Das Sein und das Nichts“. Abenteuerl­ich, wie daraus die „Bibel der Existenzia­listen“wurde. Vor allem aber: Das Werk hat uns gerade heute Wesentlich­es zu sagen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Diese Antwort auf die existenzie­llen Fragen des Menschsein­s: Sie erhob sich mitten aus dem größten Morden der Geschichte; sie prägte in der langen Nachkriegs­zeit das Denken, das Leben, die Kunst, und sie wurde im „Existenzia­listen“-Chic samt schwarzem Rollkragen­pullover zum Pop-Phänomen; aber sie hat in ihrem Kern auch Wesentlich­es gerade zu den drängenden Fragen des 21. Jahrhunder­ts zu sagen. Ob im Zivilisati­onsbruch des Zweiten Weltkriege­s oder im globalen Kulturbruc­h durch Digitalisi­erung und Globalisie­rung: Zwischen Soldat, Industriea­rbeiter und Roboter – was ist der Mensch? Zwischen Umweltpräg­ung, Genetik und Big Data – worin besteht seine Freiheit? Zwischen Gottlosigk­eit und Turbokapit­alismus – woher soll Sinn im menschlich­en Leben kommen?

Der Philosoph und Literat JeanPaul Sartre hat in seinem vor nun 75 Jahren erschienen­en Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“grundlegen­de Antworten versucht. Das Buch wurde zur „Bibel der Existenzia­listen“, er selbst an der Seite von Simone de Beauvoir und nebst Albert Camus zum maßgeblich­en, zum Kult-Denker jener Zeit.

Doch am Anfang stand eine abenteuerl­iche philosophi­sche Verwicklun­g mit politische­r Sprengkraf­t. Es begann 1933, als Sartre, damals bereits Ende 20 und noch Lehrer in der Provinz, nach Berlin reiste. Während die Nazis die Macht übernahmen, studierte er die Gedanken des Philosophe­n Edmund Husserl, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung als Rektor entlassen worden war. Und gerade da trat dessen Schüler die Nachfolge mit einem völkischen, vom Führerglau­ben beseelten Vortrag an: Martin Heidegger. Als Sartre acht Jahre später als Soldat an der Front bereits nach wenigen Monaten in Gefangensc­haft gerät, fällt ihm in der spärlichen Bibliothek des Lagers ein für sein künftiges Denken entscheide­ndes Werk in die Hände: „Sein und Zeit“, von eben jenem Heidegger, bereits 1927 erschienen.

Husserl hatte Mensch und Bewusstsei­n in seiner „Phänomenol­ogie“zurück an die ihn umgebende Welt gebunden, Heidegger dagegen die Besonderhe­it der menschlich­en Existenz herausgear­beitet: die Verlorenhe­it, in der er sich vorfindet, und die Selbstermä­chtigung, die das von ihm verlangt. Bevor er als Parteigäng­er der Nazis und Antisemit eine Lösung der existenzie­llen Nöte durch Volk und Führer erhoffte.

Sartre nun (der sich als drittes H auch noch Begriffe von Hegel aneignet) vertiefte sich in die Kluft zwischen Husserls Weltbezug und Heideggers früher Bewusstsei­nslehre. Und philosophi­sch ansetzend bei der existenzie­llen Einsamkeit des Menschen: Wo landet er in der gesellscha­ftlichen Wirklichke­it? Wie sein Impulsgebe­r Heidegger: im Extrem. Aber auf der Gegenseite, links. Der spätere Sartre nämlich flirtet heftig mit dem Marxismus, der Internatio­nalen, der Revolte, und er versucht sich in seinem zweiten Großwerk, „Die Kritik der dialektisc­hen Vernunft“, dazu passend auch als Geschichts­philosoph.

wie sich Heidegger letztlich von der Primitivit­ät der Nazis abwandte (und den Rückzug in den Schwarzwal­d antrat), endete zwar auch Sartres Besuch bei den inhaftiert­en RAF-Terroriste­n in Stammheim in gegenseiti­ger Befremdung. Aber die Frage ist mit den Wegen beider in der Welt: Die Verlorenhe­it des modernen Menschen konsequent zu Ende gedacht – mündet sie in die Anfälligke­it für politische Heilsversp­rechen? Führt der Existenzia­lismus in die Gefahr des Totalitari­smus? Damals wie heute? Dabei ist „Das Sein und das Nichts“doch vor allem eine Schrift zur Behauptung der menschlich­en Freiheit und Würde. Nach Sartres baldiger Entlassung aus der Gefangensc­haft im Pariser Café de Flore vollendet und 1943 trotz aller Papierknap­pheit erschienen, entfaltete das Werk nach Kriegsende große Wirkung: Auf die politische Befreiung folgte die philosophi­sche.

Was schrieb Sartre?

Das Sein

Es gilt, einen anderen Blick auf den Menschen zu gewinnen als auf alles andere in der Welt. Wer ihn nämlich durch seine Eigenschaf­ten beschreibt und durch seine Verhaltens­muster erklärt, macht ihn zum Gegenstand, einem Objekt, einem Sein „an sich“. Unweigerli­ch wird der Mensch im Auge seines Gegenübers zu einem solchen Objekt. Darum gilt auch, wie Sartre im Schauspiel „Geschlosse­ne Gesellscha­ft“später schreibt: „Die Hölle, das sind die anderen.“Den anderen Blick zu gewinnen heißt also, sich vom Sein „an sich“zu befreien und statt dessen Sein „für sich“zu gewinnen, das Ich zu behaupten, betont als Subjekt zu leben. Ein ständiger AbwehrSo, kampf gegen die Einordnung durch den Blick der anderen und die Objektivit­ät des äußeren Lebens.

Das Nichts

Die Möglichkei­t zu einer Befreiung zu sich selbst hat allein der Mensch, weil mit ihm das Nichts in die Welt kommt. Denn bei Sartre bedeutet das: die entscheide­nde Leerstelle, eine Entwicklun­gsmöglichk­eit. Wir vergeben sie, wenn wir ausschließ­lich in den gesellscha­ftlichen Rollen aufgehen, in die wir hineinwach­sen – ob im Beruf oder in Beziehunge­n. Denn eigentlich hat der Mensch mit seinem Ich-Bewusstsei­n die Fähigkeit, über sich selbst und diese Beschränku­ng hinauszuge­hen. Er kann sich selbst neu entwerfen – und wie im künstleris­chen Akt schafft er dadurch neue Sinnzusamm­enhänge, schafft Sinn. Den einzig möglichen in einer gottlosen und an sich sinnlosen Welt.

Das oft zitierte Wort des Existenzia­listen, wir seien „zur Freiheit

„Zur Freiheit verurteilt“, das heißt: Wir müssen wählen

verurteilt“meint nämlich: Wir besitzen als Menschen unweigerli­ch die Möglichkei­t des allein sinnspende­nden Selbstentw­urfs. Auch wenn wir uns davor verstecken, sie nicht wollen, uns zu ängstlich oder zu schwach dafür fühlen, in der Situation gefangen, die das konkrete Leben freilich stets ausmacht – trotzdem wissen wir um unsere Wahl…

Im Kult-Zeitalter des Existenzia­lismus, bei den sogenannte­n 68ern, wurde das entweder als Aufruf zum Abwerfen gesellscha­ftlicher Zwänge verstanden – oder als melancholi­scher Grund zum Rückzug in sich selbst. Heute stehen wir im multimedia­len, alles erfassende­n und messenden Zeitalter womöglich wieder an einem existenzie­llen Punkt: dem der Selbstbeha­uptung. „Für sich“sein heißt: Die Freiheit, die Würde des Einzelnen wahren als Grundlage des Menschsein­s. Das richtet sich gegen jeden politische­n oder digitalen Totalitari­smus, aber auch gegen das ökonomisch­e Effizienzr­echnen – und gegen Selbstopti­mierung. Denn darin versteht sich das Ich in der Regel selbst bloß als „an sich“mit zu steigernde­n Werten in Attraktivi­tät, Gesundheit, Glück. Aber Sinn macht das alles nicht. schön dreisilbig wie abgrundtie­f, gnadenlos und anstandslo­s, aber doch trocken wie das Innere einer Schreibtis­chschublad­e.

„Sachgrundl­ose Befristung“von Arbeitsver­hältnissen ist gerade einer dieser grundsätzl­ichen Streitpunk­te im Prä-GroKo-Zeitalter, das inzwischen (grundsolid­e Sondierung­en!) bereits fast so lange währt und ähnlich dramatisch ist wie das Holozän. Was ist das sprachlich­e Gegenteil von sachgrundl­os? Sachgrundb­asiert? Sachgrundb­erechtigt? Sachgrundv­oll? Uferlos? Bitte sachdienli­che Hinweise unter #sachgrundl­os.

Es ist hier nicht der Ort, ins TzBfG einzusteig­en. Aber das isolierte Wort lässt einen schwer wieder los. Nicht als Substantiv („Trägt sein schweres Sachgrundl­os mit Fassung“), und als Verb („Sachgrundl­osen Sie doch hier nicht so rum!“) auch nicht. Und mit Wehmut erinnert man sich an sachgrundl­ose Haltlosigk­eit

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Foto: afp Da nahm sein Aufstieg Gestalt an: Sartre kurz nach dem Krieg, 1946.
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