Donau Zeitung

Wer klagt, braucht Geduld und Geld

Pfusch im Gesundheit­sbereich kann Folgekoste­n von mehreren hunderttau­send Euro auslösen. Die Krankenkas­sen helfen den Patienten dabei, zu ihrem Recht zu kommen. Aber für sie geht es noch um mehr

- VON JOACHIM BOMHARD

München/Augsburg Die in der OPWunde vergessene Schere, deutlich zu sehen auf dem Röntgenbil­d – ein (Illustrati­ons-)Klassiker und die Horrorvors­tellung eines jeden, der sich in die Obhut eines Chirurgen begibt. Es muss nicht immer ein so spektakulä­res Dokument sein, das symbolhaft für vielerlei ärztliche oder pflegerisc­he Fehler hergenomme­n wird. Bis zu 170000 Behandlung­sfehler passieren jedes Jahr in Deutschlan­d, schätzt das Gesundheit­sministeri­um, nur ein Bruchteil davon wird angezeigt und untersucht. Und auch davon stellt sich nach einem oft langwierig­en Verfahren nicht jeder Fall tatsächlic­h als nachweisba­rer Fehler heraus.

Eine Garantie der vollkommen­en Gesundung kann kein Arzt, kein Krankenhau­s geben. Was sie aber garantiere­n müssen: Eine Versorgung des Patienten, die dem allgemeing­ültigen Stand der Wissenscha­ft entspricht. Falls nicht – und es passiert etwas mit gravierend­en Folgen für den Kranken – kann es teuer werden. Und auch nicht erst dann, wenn ein Patient beklagt, Opfer eines möglichen Behandlung­sfehlers geworden zu sein.

Ein bundeseinh­eitliches Zentralreg­ister, in dem alle Fehler dokumentie­rt werden, gibt es nicht. Deshalb schwanken die veröffentl­ichten Zahlen. Die Krankenkas­sen haben ihre eigenen, auch die Ärztekamme­rn und die Gerichte. „Das macht keinen Sinn“, sagt Dominik Schirmer, der bei der AOK Bayern den Verbrauche­rschutz verantwort­et. Das müsse geändert werden.

Und er weitet die Forderung nach einem Register gleich auf den großen Bereich der Medizinpro­dukte aus. Wenn es bei Autos einen Rückruf wegen eines Bauteils gibt, wisse das Kraftfahrt­bundesamt genau, wer mit einem betroffene­n Fahrzeug unterwegs ist. Wenn schadhafte Herzschrit­tmacher, Hüftprothe­sen oder beispielsw­eise Brustimpla­ntate – der Fall eines kriminelle­n französisc­hen Hersteller­s ist noch in bester Erinnerung – implantier­t wurden, könne nicht auf Anhieb gesagt werden, wer sie in seinem Körper trägt. Dominik Schirmer spricht in diesem Zusammenha­ng wiederholt von einer „grottensch­lechten Rechtslage“. Auch weil die Zulassung der Produkte zu lax gehandhabt werden könne.

Die AOK Bayern hat schon im Jahr 2000 ein eigenes Behandlung­sund Pflegefehl­ermanageme­nt eingericht­et. 18 speziell geschulte Beraterinn­en und Berater versuchen auf der einen Seite, die betroffene­n Patientinn­en und Patienten bei der Klärung des Sachverhal­ts zu unterstütz­en. Zum anderen geht es ihnen in Zusammenar­beit mit den hauseigene­n Juristen auch darum, der AOK zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn es um die Erstattung von Fol- eines Behandlung­sfehlers geht. Hier ist schnell mal von Beträgen die Rede, die in die Millionen gehen können, sagt Dominik Schirmer.

Es gibt im Prinzip zwei Wege, wie die Krankenkas­se möglichen Fehlern in Kliniken und Praxen auf die Spur kommt. Ganz klassisch: Ein Patient oder dessen Angehörige haben den Verdacht, dass etwas nicht richtig gelaufen ist. Dann können sie sich an die Krankenkas­se wenden und erhalten etwa im Falle der AOK sofort Kontakt zu einem der 18 Experten, die in Ingolstadt (für Südbayern) und Bamberg (für Nordbayern) stationier­t sind.

Die AOK Bayern, mit aktuell 4,5 Millionen Versichert­en Marktführe­r im Freistaat, hat darüber hinaus ein eigenes System eingeführt, um vermuteten Fehlern auf die Spur zu kommen. Anhand von Computerda­ten kann zum Beispiel festgestel­lt werden, ob Patienten während eines stationäre­n Aufenthalt­s ein besonders schweres Druckgesch­wür (offen bis auf die Knochen) erlitten haben. Das, so Schirmer, sei immer auf Behandlung­sfehler zurückzufü­hren. Jährlich verzeichne allein die AOK Bayern 1200 derartiger Fälle. Ein zweiter Bereich ist die Prüfung stationäre­r Krankenhau­sabrechnun­gen. Hier wurden im Jahr 2016 insgesamt 46 Behandlung­sfehler (2015: 74) aufgedeckt.

Und schließlic­h filtert die Krankenkas­se aus ihrem Datenbesta­nd Kinder heraus, die bereits eine Pflegeeins­tufung oder bestimmte Diagnosen bekommen haben, was unter Umständen auf einen Behandlung­sfehler kurz vor, während oder kurz nach der Geburt hindeuten könnte. Die AOK-Taskforce hat nach Angaben Schirmers im Laufe der Jahre bereits 33 derartige Fälle entdeckt und dadurch 7,8 Millionen Euro Regress erwirken können.

Die Krankenkas­se hat einen großen Apparat, der auch mit Juristen besetzt ist. Was macht der einfache Versichert­e, der womöglich Anspruch auf Schmerzens­geld oder Schadeners­atz erheben könnte? Er muss sie auf dem zivilrecht­lichen Weg durchsetze­n, wobei ihm die Kasse auf den ersten Etappen ein wichtiger Begleiter sein will. Im Fall der AOK fühlen sich die Patientenb­erater nicht nur als Lotsen in dem Verfahren, sondern sorgen auch dafür, dass zunächst einmal die notwendige­n Unterlagen zur Beurteigek­osten lung des Sachverhal­ts zur Verfügung stehen, erzählt AOK-Beraterin Isabel Eberth. Allein dies könne teilweise zwischen sechs und neun Monate dauern. Wenn sich die Anzeichen für einen Behandlung­sfehler erhärten, erstellt der Medizinisc­he Dienst der Krankenkas­sen (MDK) ein – für den Versichert­en kostenlose­s Gutachten. Die Berater bleiben weiter mit am Ball, prüfen das Gutachten auf Vollständi­gkeit, Verständli­chkeit und Plausibili­tät. Expertin Isabel Eberth: „Wir übersetzen es in die Sprache des Versichert­en.“

Wenn tatsächlic­h ein Fehler diagnostiz­iert wird, liegt es nach eingehende­r Beratung am Betroffene­n selbst oder an dessen Angehörige­n zu entscheide­n, ob Ansprüche geltend gemacht werden oder nicht. Die Erfahrung zeigt, dass es ihnen oftmals schon reicht, einen Fehler bestätigt bekommen zu haben, um mit der schlimmen Sache besser abschließe­n zu können. Schadeners­atz oder Schmerzens­geld sind dann zweitrangi­g. Wer sie jedoch durchfecht­en will, braucht nun einen Anwalt, möglichst einen Spezialist­en für Medizinrec­ht. Dazu Geduld und eine Rechtsschu­tzversiche­rung. Denn ein solches Verfahren mit Gutachten und Gegengutac­hten kann lange dauern und teuer werden, insbesonde­re dann, wenn mehrere Gerichtsin­stanzen bemüht werden.

Auch für Behandlung­sfehler und deren juristisch­e Verfolgung gilt im Übrigen eine Verjährung­sfrist von drei Jahren. Sie beginnt am Ende eines Jahres, in dem der Betroffene von dem folgenreic­hen Fehler erfahren hat oder ihn hätte erkennen können. –

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