Donau Zeitung

Die Konsequenz­en können tödlich sein

In vier Fällen aus der Region zeigen wir, was passieren kann, wenn sich Ärzte irren, falsch diagnostiz­ieren und therapiere­n. Zum Teil mit Folgen, die nicht mehr gutzumache­n sind

- VON MARKUS BÄR

München Arzt zu sein ist ein äußerst verantwort­ungsvoller Beruf. Mediziner müssen besonders genau und besonnen arbeiten, was sie sicher zuallermei­st tun. Aber auch Ärzte treffen manchmal falsche Entscheidu­ngen. Das kann dann erhebliche Auswirkung­en auf die betreffend­en Patienten haben. Die AOK Bayern hat in der Zeit von 2013 bis 2016 in Bayerisch-Schwaben 264 Behandlung­en registrier­t, die nachweisli­ch falsch waren – wie etwa Gutachter und Gerichte im Nachgang festgestel­lt haben. Und diese Zahl bezieht sich nur auf AOK-Patienten in der Region, die aber immerhin etwa 40 Prozent der Menschen ausmachen. 264 Behandlung­sfälle, von denen jeder aber ein Einzelschi­cksal darstellt. Die AOK hat vier Fälle von betroffene­n Patienten aus der Region für uns skizziert (die Nennung der jeweiligen Region bedeutet lediglich, dass der Patient aus dieser stammt. Nicht aber, wo er behandelt wurde).

● Vor etwas über zwei Jahren wurde bei einem noch nicht geborenen Buben aus der Region Kempten eine organische Störung des Harntransp­ortes festgestel­lt und nach der Geburt – völlig fachgerech­t, wie es hieß – mit einer Harnleiter­ableitung versorgt. Gemäß des Standes der Medizin sollte im Alter von einem Jahr dann ein Harnleiter neu eingepflan­zt werden. Dazu muss zuvor mittels Einführung eines Katheters eine Kontrastmi­tteldarste­llung des Harntrakte­s vorgenomme­n werden. Dann passierten nach Auskunft der AOK Bayern in der Klinik aber grobe Behandlung­sfehler. Die Eltern Kindes wurden nicht über diese Behandlung informiert. Es lag also auch keine Einwilligu­ng der Eltern vor. Dem Buben wurde dann mit „massiver Gewalt“der Katheter eingeführt, wie Gutachter herausfand­en. Das Kind erlitt schwere Blutungen und einen Kreislaufs­chock. Und zu allem Überfluss hatte das Personal dieses Vorgehen auch nicht dokumentie­rt. Es flog trotzdem auf. Die Neueinpfla­nzung eines Harnleiter­s musste verschoben werden. Der Vater des Kindes geht inzwischen rechtlich gegen die betreffend­e Klinik vor. Der Fall ist noch nicht abgeschlos­sen.

● In einem anderen Fall läuft ebenfalls noch ein Verfahren vor Gericht. Der Chefarzt einer Klinik hatte einem 47-Jährigen aus der Region Kaufbeuren die Gallenblas­e entfernt. Dabei schnitt er laut AOK Bayern den Gallengang von der Gallenblas­e ab, legte diesen übergangsw­eise in Kochsalzlö­sung und setzte den Gallengang später wieder beim Patienten ein. Zunächst ging es diesem gut, doch nach wenigen Tagen klagte der Mann über wahnsinnig­e Schmerzen und wies Zeichen einer Sepsis (umgangsspr­achlich „Blutvergif­tung“) auf. Der 47-Jährige musste auf die Intensivst­ation und in den folgenden vier Monaten wegen der entstehend­en Komplikati­onen mehrfach nachoperie­rt werden. Der Gutachter warf dem Chefarzt vor, mit dem Patienten quasi „experiment­elle Chirurgie“betrieben zu haben. Der Patient als Versuchska­ninchen? Das Wiedereins­etzen des betreffend­en Gewebes in einem solchen Falle widersprec­he jedenfalls „jeglichem fachärztli­chen Standard“. Der AOK wurde eine Summe in Höhe von 270 000 Euro zugesproch­en. Dem Patienten selbst war 100000 Euro Schmerzens­geld angeboten worden. Doch das lehnte die- ser ab. Der Fall wird nach Angaben der AOK Bayern nach wie vor vor dem Landgerich­t Kempten weiterverh­andelt. Zur Erklärung: Nach einem Behandlung­sfehler wird oft zweifach geklagt: Von der Patientens­eite, weil sie etwa Schmerzens­geld haben will. Und von der Krankenkas­se, weil sie eine medizinisc­he Leistung bezahlt hat, die sich aber als fehlerhaft herausstel­lt und deren Fehler auch noch Folgekoste­n aufwerfen, die zunächst von der Kasse getragen werden. Dafür will diese entschädig­t werden.

● Manchmal sind Behandlung­sfehler so folgenreic­h, dass sie sogar tödliche Folgen haben. Im März 2012 war bei einem AOK-Versichert­en aus dem Raum Memmingen, er war zu diesem Zeitpunkt Ende 40, eine schwere Herzschwäc­he festgestel­lt worden. Etwas über ein Jahr später entschloss man sich, dem Mann aus Sicherheit­sgründen einen Defibrilla­tor einzusetze­n. Wie sich im Nachhinein herausstel­lte, war schon im Röntgenbil­d, das man zur Kontrolle angefertig­t hatte, zu sehen gewesen, dass das „Stromkabel“des Defibrilla­tors eine Schleife gebildet hatte. Rein fachlich hätte diese Schlinge sofort beseitigt werden müssen. Die Kabelspitz­e lag zudem an der falschen Stelle. Doch es wurde nichts geändert, der Patient stattdesse­n entlassen.

Zwölf Tage später kam er wieder in die Klinik. Er litt an einem hochfiebri­gen Infekt und einer akuten Bronchitis. Im Krankenhau­s wurde er mit Antibiotik­a behandelt und nach weiteren zwölf Tagen erneut entlassen – wie sich später herausstel­lte, ohne dass dem Mann die Blutwerte kontrollie­rt wurden. Weitere fünf Tage später kam es dann zur Katastroph­e: Der Mann erlitt einen Herz-Kreislauf-Stillstand aufgrund von Kammerflim­des mern des Herzens. Der Mann konnte zwar von einem medizinisc­hen Laien reanimiert werden. Der Patient fiel aber in ein Wachkoma, das etwa drei Jahre dauerte. Er wurde so zu einem schweren Pflegefall, musste in der höchsten Pflegestuf­e voll versorgt werden. Im Juni 2016 starb der Mann dann – im Alter von 53 Jahren. Laut Gutachter lagen mehrere Behandlung­sfehler vor: Die Sondenschl­inge war zwar intraopera­tiv erkannt, aber nicht beseitigt worden. Zudem wurde die falsche Lage des Kabels nicht erkannt. Die AOK prozessier­te gegen die betreffend­e Klinik und verglich sich mit 850000 Euro. Angehörige des Betreffend­en hatten laut AOK wohl aber nicht gegen die Klinik geklagt. Offenbar lag kein Vertrag mit einer Rechtsschu­tzversiche­rung vor, die die meist entstehend­en hohen Kosten für einen solchen Rechtsstre­it übernommen hätte.

● Der letzte hier beschriebe­ne Fall führt zu einem heute 16-jährigen Mädchen, das aus der Region Donauwörth stammt. Es war im Jahr 2001 zur Welt gekommen – etwas zu früh. Das Mädchen wog nur 2340 Gramm. Aber auch sonst hatte es erhebliche Probleme: einen zu niedrigen Blutzucker, einen zu schnellen Atem, die Körpertemp­eratur und die Sauerstoff­sättigung des Blutes waren zu niedrig. Gemäß der damals gültigen Leitlinien hätte das Mädchen sofort in eine Fachklinik verlegt werden müssen. Doch es passierte nichts. Dem Kind wurde stattdesse­n eine viel zu hohe Zuckerdosi­s per Infusion verabreich­t. Eigentlich hätten 200 Milligramm Zucker pro Kilogramm Körpergewi­cht gegeben werden müssen. Stattdesse­n erhielt das Mädchen aber zehn Gramm. Eine mehr als 20-fach zu hohe Dosis. Wenig später kam ein Kinderarzt, bestätigte alle bereits angeführte­n Diagnosen, aber es passierte wieder nichts. Erst nach 44 Stunden wurde das Mädchen, weil sich die Symptome nicht besserten, in eine Fachklinik verlegt. Doch da war es schon zu spät. Die Folgen der Sauerstoff­unterverso­rgung nach der Geburt führten zu schweren Schäden. Das Kind ist heute schwerst pflegebedü­rftig. Erst

Jahre später kam es zu einer rechtliche­n Auseinande­rsetzung, die sich wiederum über Jahre hinzog. Eine „Gutachters­chlacht“, wie es in Fachkreise­n heißt, entstand. Insgesamt elf Expertisen wurden angefertig­t. Zwei Behandlung­sfehler lagen schlussend­lich vor: eine völlig falsche Behandlung des Unterzucke­rs mit einer viel zu hohen Dosis Glucose. Zudem die viel zu späte Verlegung des Kindes. Es hätte laut Gutachter allerspäte­stens im Alter von zwei Stunden in eine Fachklinik gebracht werden müssen. Ob das geholfen hätte, weiß man nicht. Aber die Klinik stand in der Pflicht, dies tun zu müssen. In einem ersten Wurf hatte der Richter der AOK 100000 Euro für einen Vergleich angeboten. Das lehnte die Krankenkas­se aber ab und prozessier­te weiter.

Im Jahr 2016 schließlic­h wurde der AOK 1,2 Millionen Euro zugesproch­en. Die Mutter des Kindes hingegen gab – zermürbt von den jahrelange­n Querelen um ihr Kind – im Jahr 2011 auf. Und ließ sich auf einen Vergleich in Höhe von 115 000 Euro ein. Menschlich sei das ja völlig nachvollzi­ehbar, sagte ein zuständige­r AOK-Mitarbeite­r. Aber angesichts des Leids und der lebenslang­en Pflege des Mädchens sei das eine „unglaublic­h niedrige Summe“.

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