Die Nacht, die das Land veränderte
Innenansichten aus einer turbulenten Zeit: Wie Angela Merkel Deutschland in eine historische Zäsur zwang
Der Moment, in dem Deutschland dichtmacht, ist minutiös vorbereitet. In Bussen und Hubschraubern hat Dieter Romann, der Präsident der Bundespolizei, 21 Hundertschaften an die deutsch-österreichische Grenze verlegen lassen. Container, Zelte, Lichtmasten und jede Menge Gerät hat er nach dem G7-Gipfel in Elmau ein paar Wochen zuvor bereits in weiser Voraussicht in Bayern eingelagert. Ein Anruf, eine Unterschrift – und der Einsatz kann beginnen. Am Ende allerdings bleibt die Grenze dann doch offen. Verängstigte Flüchtlingsfamilien mit weinenden kleinen Kindern, die von deutschen Polizisten kühl abgewiesen werden: Solche Bilder, findet Angela Merkel, sollen im Herbst 2015 von Deutschland aus lieber nicht in die Welt gehen.
Ihre Entscheidung Anfang September, die Tore für die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge zu öffnen, sei eine Richtungsentscheidung gewesen, schreibt der Journalist Robin Alexander in einem minutiös recherchierten Buch über die Nacht, die Deutschland veränderte, und ihre bis heute nicht bewältigten Folgen. Er vergleicht die Tage im Herbst, als in München teilweise stündlich neue Züge mit Flüchtlingen eintreffen, mit historischen Zäsuren wie beispielsweise Willy Brandts Ostpolitik oder der Wiedervereinigung unter Helmut Kohl: „Die bedingungslose Grenzöffnung wird die soziale und ethnische Struktur der deutschen Bevölkerung nachhaltig verändern, sie wird das Parteiensystem revolutionieren, das Land in Europa zeitweise isolieren und zu dramatischen politischen Verwerfungen in den Nachbarstaaten beitragen.“Ja, mehr noch: „Keine Bundestagsdebatte, kein Parteitag und kein Wahlsieg hat legitimiert, was an diesem 4. September seinen Anfang nimmt.“
Obwohl Angela Merkel sich geweigert hat, mit ihm über ihre Beweggründe zu sprechen, kommt Alexander der Kanzlerin in seinem Buch näher als viele andere Journalisten. Er beschreibt, wie sie Innenminister Thomas de Maizière ausbremst, der auf der Linie des Bundespolizisten Romann liegt, im entscheidenden Moment aber zögert, den Einsatz an der Grenze anzuordnen. Er beschreibt, wie sie die Angriffe von CSU-Chef Horst Seehofer unbeeindruckt ins Leere laufen lässt und wie bedingungslos sie sich später dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan unterwirft, um den Andrang der Flüchtlinge im Nachhinein wenigstens halbwegs zu stoppen. Dennoch ist Robin Alexanders Buch keine plumpe Anklageschrift geworden, sondern ein ebenso nüchterner wie erschütternder Report aus dem Inneren der Macht.