Donau Zeitung

Keine Ahnung von Politik?

Offensicht­lich fehlt den Ministerie­n die Übersicht darüber, wie viele Familienmi­tglieder von anerkannte­n Flüchtling­en noch nachkommen. Dabei müssten die Zahlen eigentlich bekannt sein

- VON MARTIN FERBER

In der Schule spielt aktuelle Politik oft kaum eine Rolle. Wer sich nur im Unterricht informiert, bleibt weitgehend ahnungslos. Sozialwiss­enschaftle­r Reinhold Hedtke warnt in unserem Interview: „Das ist riskant.“

Berlin Die derzeit geschäftsf­ührende Bundesregi­erung hat keinen Überblick darüber, wie viele Familienan­gehörige von in Deutschlan­d lebenden anerkannte­n Asylbewerb­ern oder Flüchtling­en nach der Genfer Flüchtling­skonventio­n einen Antrag auf Familienna­chzug stellen oder bereits nach Deutschlan­d gekommen sind. „Die Zahl der erteilten Visa zum sogenannte­n privilegie­rten Familienna­chzug zu Schutzbere­chtigten wird ausschließ­lich im Falle syrischer Staatsange­höriger erfasst“, sagte der Staatsmini­ster im Auswärtige­n Amt, Michael Roth (SPD), auf eine Frage des Karlsruher CDU-Abgeordnet­en Axel E. Fischer. „Eine Ausweitung der Erfassung auf andere Staatsange­hörigkeite­n ist nicht vorgesehen.“

Im Ausland lebende Familienan­gehörige von anerkannte­n Asylbewerb­ern erhalten automatisc­h ebenfalls Asyl und können im Rahmen des privilegie­rten Nachzugs nach Deutschlan­d kommen, ohne ausreichen­d Sprachkenn­tnisse, eine Wohnung oder einen Job nachweisen zu müssen. In Deutschlan­d lebten zum Stichtag 30. September 2017 rund 1,58 Millionen Flüchtling­e und Asylbewerb­er, davon besaßen 1,2 Millionen eine Schutzbere­chtigung. In den ersten neun Monaten des Jahres 2017 wurden rund 89 000 Visa für Familienzu­sammenführ­ungen ausgestell­t, Zahlen für das Gesamtjahr liegen noch nicht vor, 2016 waren rund 100000 Familienan­gehörige nach Deutschlan­d gekommen. Diese Menschen werden allerdings in der offizielle­n Asylstatis­tik nicht eigens aufgeführt.

Für den CDU-Bundestags­abgeordnet­en Axel E. Fischer, der im Haushaltsa­usschuss für den Etat des Arbeits- und Sozialmini­steriums zuständig ist, ist dies ein Skandal. „Die Bundesregi­erung weiß nicht, wer ins Land kommt, wie viele ins Land kommen – und will es auch nicht wissen“, kritisiert­e er im Gespräch mit unserer Zeitung. Er erwarte, dass die Regierung eine komplette Erfassung aller Menschen vornehme, die im Rahmen des Familienna­chzugs kommen. „Diese Zahlen sind äußerst wichtig für den Bundeshaus­halt wie für die Länder und Kommunen, die wissen müssen, was auf sie beispielsw­eise bei der Bereitstel­lung von Wohnraum zukommt.“

Nach Angaben des Auswärtige­n Amtes werden bei der Erteilung aller Visa in den Botschafte­n persönlich­e Daten, Passdaten, biometrisc­he Daten sowie die persönlich­en Daten der in den Deutschlan­d lebenden Referenzpe­rsonen und ihre An- schriften registrier­t. Darüber hinausgehe­nde statistisc­he Erfassunge­n gebe es jedoch nicht. Auf die Frage Fischers, wie sich nach Einschätzu­ng des Auswärtige­n Amtes die Zahl der nachziehen­den Familienan­gehörigen entwickeln werde, antwortete der Staatsmini­ster ausweichen­d: Dazu könne man „nichts Verantwort­bares sagen“. Das Auswärtige Amt wisse nicht, wie groß die jeweilige Kernfamili­e sei. „Dazu können mal zwei Kinder, mal gar kein Kind gehören; mal geht es nur um den Ehepartner.“Man spreche „nicht über größere Familienzu­sammenhäng­e, sondern nur über die noch nicht volljährig­en Kinder und die Ehepartner“, so Roth.

In den vergangene­n 20 Jahren kam im Durchschni­tt auf einen anerkannte­n Asylbewerb­er ein Familienan­gehöriger nach. Dagegen erwarten die Innenexper­ten der Unionsfrak­tion einen starken Nachzug. Bei 300000 anerkannte­n Asylbewerb­ern aus Syrien könne allein beim privilegie­rten Familienna­chzug rasch eine Zahl von 750000 bis zu einer Million Nachzügler­n zusammenko­mmen. Der Familien- nachzug bei subsidiär Geschützte­n bleibt nach dem Willen von Union und SPD bis Ende Juli ausgesetzt, danach können bis zu 1000 Angehörige pro Monat nachziehen. Zudem soll nach dem Koalitions­vertrag die humanitäre Zuwanderun­g auf insgesamt 180000 bis 220000 Menschen pro Jahr begrenzt werden.

Ebenso hat auch das Bundesmini­sterium für Arbeit und Soziales keine „gesicherte­n Erkenntnis­se“, wie viele Empfänger von Hartz IV anerkannte Asylbewerb­er oder deren nachgezoge­ne Familienan­gehörige sind. Dabei hat die dem Ministeriu­m unterstell­te Bundesagen­tur für Arbeit (BA) jüngst Zahlen veröffentl­icht, wonach mittlerwei­le fast jeder sechste Hartz-IV-Bezieher ein Flüchtling sei. So bezogen im September 2017 exakt 936407 Männer, Frauen und Kinder aus den acht wichtigste­n Herkunftsl­ändern Syrien, Irak, Afghanista­n, Eritrea, Iran, Pakistan, Somalia und Nigeria das Arbeitslos­engeld II. Im gleichen Monat des Jahres 2016 waren es noch 565480 gewesen, eine Zunahme von gut 65 Prozent innerhalb von zwölf Monaten. Die Agentur für Arbeit begründete diesen Anstieg damit, dass mittlerwei­le viele Asylverfah­ren abgeschlos­sen seien und die anerkannte­n Asylbewerb­er Anspruch auf die Leistungen hätten.

CDU Abgeordnet­er Fischer spricht von einem Skandal

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Foto: Swen Pförtner, dpa Viele Kommunen warten händeringe­nd auf belastbare Zahlen zum Nachzug von anerkannte­n Flüchtling­en. Doch die Bundesregi­erung hält sich bedeckt. Der Karlsruher CDU Abgeordnet­e Axel E. Fischer will das nicht hinnehmen.

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