Immer dran, immer drin
Im Internet ist Präsenz allein schon eine Währung. Durch Werbung verdienen Plattformen ein Vermögen. Die Folge: Ein weitgehend unkontrollierter Wettbewerb um Aufmerksamkeit – auch um die Kunden der Zukunft
Es gibt natürlich Zahlen, die die reine Marktmacht ausdrücken. Im vergangenen Jahr wurde global zum ersten Mal mehr Geld in Internetwerbung investiert als in Fernsehwerbung, mehr Geld in die sogenannten „Sozialen Netzwerke“als in gedruckte Zeitungen. Und die Hälfte aller Einnahmen aus der Online-Werbung weltweit teilen sich genau zwei Unternehmen: Google und Facebook.
Aber vielleicht noch mehr über deren Macht erzählt der Triumph eines Prinzips. Jene Firmen, die laut dem Millward Brown Index mit einem Marktwert von rund 230 Milliarden Dollar (Google) und 103 Milliarden Dollar (Facebook) auf Platz eins und fünf der wertvollsten Unternehmen der Welt stehen, produzieren und verkaufen in ihrem Geschäftskern ja eigentlich gar nichts. Sie erhalten ihre Bedeutung allein dadurch, dass sehr, sehr viele Menschen auf ihren virtuellen Plattformen kommunizieren und sich informieren. Ihr Kapital ist die reine Präsenz der Menschen; sie haben das, was einst den Traum vom freien Internet als offene Räume des Wissens und der Begegnung ausmachte, gekapert und zu ihrer Geschäftsgrundlage gemacht.
Was nach Piratentum klingt, war auch eine unternehmerische Glanzleistung. Denn diese Unternehmen waren halt die erfolgreichsten im Rennen darum, mit Anreizen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Also muss heute derjenige, der im digitalen Leben von den meisten seiner möglichen Kunden präsent sein will, dort inserieren. Also schlicht am meisten bezahlen dafür, dass das eigene Angebot angezeigt wird, wenn jemand nach etwas aus dem Sortiment sucht. Nur das Geld zählt, den Rest erledigen Algorithmen.
Und so ist inzwischen das Internet, vielleicht mehr als alles andere, zum globalen, automatisierten Wirtschaftsraum geworden. Für jeden Nutzer ist dieser Raum persönlich eingerichtet, mit nach seinem Profil sich ausrichtenden SuchTreffern und Produkt-Anzeigen. So soll schließlich auch die Plattform, die wir nutzen, durch die ständige Anpassung der gesetzten Anreize profitieren – zu Hause am Laptop, in der Arbeit am Rechner, unterwegs am Smartphone: Wir bleiben drin. Und sorgen mitunter allein schon dadurch für Umsätze.
Das sind die Prinzipien des digitalisierten Marktplatzes – und wir werden seinen Anreizen künftig wohl noch offensiver ausgesetzt sein. Denn wenn es stimmt, dass als nächster Entwicklungsschub die digital erweiterte Wirklichkeit ansteht und wir im Blick durch neuartige Brillen oder Kontaktlinsen die Netzinhalte gleich integriert sehen: Die Welt würde zur Plattform und die mehr oder weniger offensichtliche Werbung auf Schritt und Tritt zum wesentlichen Anteil der Wirklichkeit. Wir wären unweigerlich und immer drin.
Und im Vorbeigehen spräche uns womöglich aus dem Schaufenster eine exakt über unsere Vorlieben und Deformationen informierte Dame persönlich an – mit tiefem Blick und angenehmer Stimme. Weil der Kühlschrank zu Hause leer ist, jedenfalls der Vanille-Joghurt fehlt, oder weil sich der Blutzucker auf Tiefstand befindet.
Bereits in seiner jetzigen Form hat das Präsenz-Prinzip Folgen. Es muss nicht nur der reine Himmel, also die pure Hölle sein für die rund 800 000 Menschen allein in Deutschland, die bereits heute als krankhaft konsumsüchtig gelten – sondern es fördert natürlich das Suchtverhalten schlechthin. Und das vor allem schon bei Kindern. Wenn diese etwa auf der zu Google gehörenden Videoplattform Youtube-Filmchen sehen, gibt es kein Ende mehr, nirgends, und dazu nicht mehr altersgerechte Abzweigungen. Weil die ja in aller Regel von keinem Menschen mehr kontrolliert werden, sondern automatisiert verknüpft sind. Wie soll es auch anders gehen? – wenn in jeder einzelnen Minute allein auf Youtube 400 Stunden Filmmaterial hochgeladen werden.
Das Einzige, was automatisch registriert wird, ist, ob etwas die gewünschte Wirkung erzielt oder nicht: dass nämlich Kinder und Kunden drin- und dranbleiben. Beispiele dafür, dass sich in einem solchen freien Spiel der Reize nicht der zurückhaltende Blick, feine Schattierungen und Differenzierungen durchsetzen, gibt es reichlich. Beispiel: Der Umstand, dass bei Twitter eine Mitteilung positiv bewertet wird, steigt statistisch – ohne Ansehen des restlichen Inhalts – um das Vierfache, wenn ein Schimpfwort
Ein mächtiges System, das Anreize stetig optimiert
Das Suchtverhalten wird gefördert, besonders bei Kindern
Das Internet ist der schieren Masse wegen eigentlich nicht kontrollierbar
darin vorkommt. Oder: Wer sich über politische Themen informieren will, wird breite Straßen in extremistische Gefilde gut gepflastert und einladend ausgeschildert finden… Willkommen Kunden und Kinder.
Der Direktor des Center for Humane Technology für den menschlichenfreundlichen Einsatz der Technologie, ein Mann namens Tristan Harris, der zuvor für Google arbeitete, erklärt in der New York Times:
„Die größten Supercomputer der Welt stehen in zwei Konzernen – bei Google und bei Facebook – und worauf sind sie gerichtet? Wir zielen damit auf die Hirne von Menschen, auf die Hirne von Kindern.“
Das Anreiz-System Internet ist also technisch maximal ausgestattet, dazu wirtschaftlich so mächtig wie sonst nichts und weitestgehend unkontrolliert beziehungsweise der schieren Messe wegen eigentlich gar nicht kontrollierbar. Und es ist dabei im Grunde für alle einfach zugänglich beziehungsweise wird es in absehbarer Zeit sogar unweigerlich zum Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Dieses automatisierte System versteht den Menschen als ein Muster von Reaktionen auf Reize. Es arbeitet stetig an der Optimierung der Verwertung dieses Musters. Und dann gibt es da noch ein anderes, diesem exakt entgegengesetztes Verständnis des Menschen. Das Verständnis des Menschen als mündigem Bürger und Konsumenten nämlich.
Es ist dies das Verständnis von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft.