Donau Zeitung

Probleme beim Lesen bringen Probleme im Leben

Jeder fünfte Viertkläss­ler stolpert über die einfachste­n Wörter. Wir erklären, wozu das führen kann und weshalb ein Augsburger Rektor trotzdem Hoffnung hat

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Birne, Pflaume: Früchte, die viele Kinder gerne essen. Aber auch Wörter, die viele Kinder nicht richtig lesen können. Rektor Christoph Dietsche erlebt das jeden Tag. „Die Defizite beim Lesen sind enorm. Wir stellen seit Jahren fest, dass immer mehr Schüler in ihrer Lesekompet­enz gefördert werden müssen“, sagt der Schulleite­r der Centervill­e-Grund- und Mittelschu­le in Augsburg. „Manchen Kindern fehlen einfachste Begriffe. Wenn sie zum Beispiel ein Rezept vorlesen, stocken sie, bringen die weithin bekannten Obst- und Gemüsesort­en nicht über die Lippen.“

Denn jeder fünfte Viertkläss­ler in Deutschlan­d kann nicht richtig lesen, wie die Internatio­nale Grundschul-Lese-Untersuchu­ng (IGLU) kürzlich bestätigt hat. Bayern schneidet noch am besten ab: Im Freistaat hat „nur“jeder zehnte Viertkläss­ler seine Schwierigk­eiten mit den Buchstaben.

Probleme beim Lesen werden oft zu Problemen im Leben: Es sei davon auszugehen, dass betroffene Kinder „erhebliche Schwierigk­eiten“in weiterführ­enden Schulen bekommen, schreiben die IGLUForsch­er. Das setzt sich fort: 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschlan­d kämpfen sich heute durch ihren Alltag, weil sie Briefe, Gebrauchsa­nweisungen und andere Schriftstü­cke nur mit größter Mühe entziffern können. Die Wissenscha­ft spricht in solchen Fällen von funktional­em Analphabet­ismus.

Dass leseschwac­he Schüler aber automatisc­h die Mittelschu­le besuchen, verneint Rektor Dietsche: „Selbst wenn ein Kind den Übertritt an eine weiterführ­ende Schule durch eine sehr gute Note in einem Sachfach erreicht, heißt das nicht, dass es auch über eine entspreche­nde Lesekompet­enz verfügt.“Kurz: Kinder mit einer Eins im Heimatund Sachunterr­icht können sich mit dem Apfel und der Ananas im Lesebuch trotzdem schwertun. Noch dazu sei die Alltagsspr­ache der jungen Generation oft „sehr weit weg von unserem Schriftdeu­tsch“in einer Zeit, in der sogar Kinder in Werbespots fragen: „Mama, kann ich mal die Wurst?“

Auf der Suche nach der Ursache für das Schwinden der Kulturtech­nik Lesen liegen für den Laien zwei Tatsachen auf der Hand. Erstens: Drittel der Sechs- bis 13-Jährigen hat ein Smartphone, sieht sich damit Videos auf Youtube an, nutzt Messengerd­ienste, bei denen ein Emoji oft einen ganzen Satz ersetzt. Zweitens: Rund jeder dritte Grundschül­er hat einen Migrations­hintergrun­d, Lesen und Schreiben womöglich nicht auf Deutsch gelernt. Kinder, bei denen beide Eltern im Ausland geboren sind, liegen im Schnitt beim Lesen ein Schuljahr zurück. Insgesamt aber haben sie sich in den vergangene­n 15 Jahren verbessert.

Mit vorschnell­en Schlüssen muss man sehr vorsichtig sein. Denn die Leseproble­me sind kein neues Phänomen. Die aktuellen Ergebnisse unterschei­den sich nur um wenige Prozentpun­kte von denen der ersten IGLU-Analyse im Jahr 2001. Heute wie damals gilt: Schüler aus niedriAnan­as, Beim dem zerhackten Text „Flaschenpo­st“kommt es darauf an, dass Kinder Buch staben sicher erkennen. Der Witz „Die gleichen Fehler“prüft, ob sie den Inhalt eines Textes verstehen. Beide Aufgaben sollten für Drittkläss­ler lösbar sein. Die gleichen Fehler

Die Leh re rin fragt: „Pe ter, du hast die glei chen 12 Feh ler in dei nem Text wie dein Ne ben mann. Kannst du mir das er klären?“– „Ja, ganz ein fach, wir ha ben die sel be Leh re rin!“, er wi dert Pe ter.

Aufgaben:

Zähle die gelesenen Wörter. Erzähle den Witz nach. Schreibe die von dir gelesenen Wörter. gen sozialen Schichten tun sich schwerer als ihre Schulkamer­aden aus einer bessergest­ellten Familie. Die Forscher haben nachgezähl­t: Kinder aus einem Elternhaus mit mehr als 100 Büchern lesen „signifikan­t besser“als die mit weniger Werken. Noch größer ist der Unterschie­d im europäisch­en Vergleich nur in Ungarn. Und die soziale Schere öffnet sich immer weiter.

Die Sprachwiss­enschaftle­rin Petra Schönweiss nimmt die Eltern zumindest ein Stück weit in Schutz. Sie ist überzeugt: Auch Kinder aus Arbeiterfa­milien können gutes Lesen lernen. „Meine Mutter hat auch keine höhere Bildung, aber sie kann ausgezeich­net Schreiben und Lesen.“Es kommt darauf an, wie sehr Eltern ihre Kinder unterstütz­en. „Viele würden gern helfen. Sie wissen nur nicht so genau, wie.“SchönEin Eine weitere Möglichkei­t, Textver ständnis zuhause zu üben, ist bei spielsweis­e das Malen lassen von ein zelnen Begriffen, Sätzen oder Sze nen. Weniger spielerisc­h, dafür effektiv für den Lernfortsc­hritt ist das Vorle sen mit der Stoppuhr. Dabei liegt der Fokus auf der Anzahl der gelesenen Wörter pro Minute – und der so gemes sene Lernfortsc­hritt ist auch für das Kind motivieren­d (siehe Interview). weiss verantwort­et den „Lernserver“der Universitä­t Münster, ein Angebot zur Rechtschre­ib- und Leseförder­ung. Sie und ihr Team haben fast 500 000 Kinder und Erwachsene getestet und Lernmateri­alien entwickelt. Ihrer Meinung nach sind „viele Probleme von den Schulen hausgemach­t“. Sie prangert vor allem die Methode „Lesen durch Schreiben“an: Grundschül­er bringen Wörter dabei so aufs Papier, wie sie sie beim Vorlesen hören. Das sieht dann so aus: „Mama ferschtekt Kschenke.“Oder: „Leo ist in Efa ferliebt.“Für die Kinder sei die Methode nur verwirrend, sagt Sprachwiss­enschaftle­rin Schönweiss. In Bayern wurde das Schreiben nach Gehör nie gelehrt – anders als in Baden-Württember­g. Dem Land, das neben dem Freistaat lange der Überfliege­r sämtlicher Bildungsst­udien war. 2016 kam der Praxisscho­ck: In keinem anderen Bundesland waren die Leistungen der Viertkläss­ler derart abgesackt. Als eine der ersten Konsequenz­en daraus schaffte Bildungsmi­nisterin Susanne Eisenmann (CDU) „Lesen durch Schreiben“ab.

Die Lehrer der Augsburger Centervill­e-Schule haben auch etwas getan. Vor neun Jahren schon begannen sie, ein schuleigen­es Lesekonzep­t zu entwickeln. Sie stockten die Schulbüche­rei auf, schicken Kinder auch während des Unterricht­s dorthin, damit sie mit einem Lexikon aus Papier recherchie­ren lernen. Lesepaten – oft ältere Schüler oder Ehrenamtli­che – holen regelmäßig Schüler aus dem Klassenzim­mer, um gezielt Texte mit ihnen zu erarbeiten, die sie nicht verstehen. „Im Klassenver­band fehlt oft die Zeit dafür“, erklärt Schulleite­r Christoph Dietsche.

Aber bringen all die Ideen den erwünschte­n Erfolg? „Es ist mühsam, aber sie tragen Früchte“, sagt er. „Wir hatten schon Schüler, die es auf die Realschule oder das Gymnasium geschafft haben und bei denen wir sagten: Das hätten sie nie erreicht ohne Leseförder­ung.“Und eins hat den Rektor kürzlich besonders gefreut. „Eine Mitarbeite­rin unserer Bibliothek hat gefragt, ob wir neue Bände spezieller Kinderbuch­reihen anschaffen können.“Die Schüler wollten weiterlese­n. Die wilden Piro

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