Donau Zeitung

Müssen alle in den Kindergart­en?

Bildungsfo­rscher fordert Schulzwang für Kinder ab drei Jahren, wie in Frankreich. Bundesfami­lienminist­erin Giffey sieht Deutschlan­d weit davon entfernt, weil die Plätze fehlen

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Braucht Deutschlan­d eine Kindergart­enpflicht? Für alle Mädchen und Buben oder speziell für jene, die in ihren Familien kein Deutsch lernen? Seit der französisc­he Präsident Emmanuel Macron verkündet hat, dass in Frankreich die Schulpflic­ht künftig bereits für Kinder ab drei Jahren gilt, werden diese Fragen kontrovers diskutiert.

Der Bildungsfo­rscher Dieter Lenzen, Rektor der Universitä­t Hamburg, lobt die Ausweitung der Schulpflic­ht in Frankreich als „beispielha­ft“. Mittelfris­tig solle dies „auch ein Ziel in Deutschlan­d sein“, sagt der Vorsitzend­e des „Aktionsrat­s Bildung“unserer Zeitung. Lenzen ergänzt: „Dieses gilt auch und besonders im Hinblick auf die sehr großen Zahlen von Migrantenk­indern aus bildungsfe­rnen Schichten, deren Integratio­n ohne solche Maßnahmen außerorden­tlich schwierig ist.“Es gebe „sowohl beschäftig­ungspoliti­sche Gründe als auch solche der Gleichstel­lung von Frauen und Männern und insbesonde­re Gründe der Herstellun­g von Chan- cengerecht­igkeit für die Kinder, eine Bildungsei­nrichtung durchzuset­zen, die früher wirksam wird als die jetzige Grundschul­e.“

Eine allgemeine Kindergart­enpflicht gibt es in Deutschlan­d nicht, die Früherzieh­ung ist Sache der Länder und Kommunen. In Berlin müssen Kinder mit Sprachprob­lemen bereits seit einigen Jahren verpflicht­end für mindestens 18 Monate in die Kita. Zumindest in der Theorie. Doch wie örtliche Medien berichten, wird die „Kitapflich­t“von den meisten der betroffene­n Familien schlichtwe­g ignoriert.

Rund 90 Prozent der fraglichen Kinder bleiben bis zur Einschulun­g zu Hause. Der Senat hatte 2000 Familien angeschrie­ben, weil ihre Kinder keine Kita besuchen, und zu einem verpflicht­enden Sprachtest gebeten. Zu diesem erschienen nur 650 Kinder, 470 von ihnen fielen durch. Von denen wiederum haben nur 50 anschließe­nd die Kita be- sucht. Die meisten der Familien, die gegen die Kitapflich­t für ihre Kinder verstoßen, leben im Problembez­irk Neukölln.

Die neue Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey war dort bis vor kurzem Bürgermeis­terin. Sie fordert eine neue Debatte um die frühkindli­che Bildung in Deutschlan­d. „Es kann nicht sein, dass Eltern überlegen, kann ich es mir überhaupt leisten, mein Kind in die Kita zu geben“, sagt die SPD-Politikeri­n unserer Zeitung. Von einer Ausgangsla­ge wie in Frankreich sei Deutschlan­d jedoch noch weit entfernt: „Wir müssen erst mal dahin kommen, dass wir für alle ein Angebot machen können“, sagt Giffey.

„Wenn man sich die Situation deutschlan­dweit anschaut und den Realitäten ins Auge blickt, dann sehen wir: Wir haben nicht genügend Kitaplätze, nicht mal annähernd“, räumt die Familienmi­nisterin ein. „Erst mal muss es darum gehen, dass ein Kita-Angebot geschaffen wird, dass der Bedarf gedeckt wird“, betont sie. „Uns fehlen die Erzieherin­nen und Erzieher. Da müssen wir ansetzen und das ändern.“Zugleich betont Giffey die Wichtigkei­t des Themas: „Ich bin eine Verfechter­in von guter frühkindli­cher Bildung“, sagt sie. „Wir müssen früh anfangen, damit jedes Kind es packt“, fügt sie hinzu. „Ein Fünfjährig­er, der sich nicht alleine anziehen kann, nicht rückwärts laufen, nicht den Stift halten kann und Probleme beim Sprechen hat, hat keine guten Startbedin­gungen“, erklärt Giffey. „Wenn sich das fortsetzt, wird das kein guter Schulabsch­luss.“Andere Kinder fühlten sich abgehängt oder gingen gar nicht mehr in die Schule. „Das heißt: keine Ausbildung, keine Arbeit, Sozialleis­tungsbezug. Das darf nicht passieren.“

Marcus Weinberg (CDU), familienpo­litischer Sprecher der Unionsfrak­tion im Bundestag, könnte sich „durchaus vorstellen, dass Kindern, bei denen im Kindergart­en- oder Vorschulal­ter Sprachdefi­zite oder Integratio­nsdefizite festgestel­lt werden, bereits vor dem Schulbegin­n zusätzlich­e und verpflicht­ende Angebote und spezielle Vorschulma­ßnahmen unterbreit­et werden.“Von einem Kitazwang für alle Kinder halte er aber nichts.

Kitapflich­t für Kinder mit Sprachprob­lemen

Newspapers in German

Newspapers from Germany