Donau Zeitung

Verehrte Gewürzgurk­e, Dein Globetrott­el

Postkarten sind banal? Für Schriftste­ller ist die kleine Form eine Herausford­erung. Jurek Becker war darin virtuos

- VON MICHAEL SCHREINER

Jede Postkarte, die der Schriftste­ller Jurek Becker an seine Frau Christine geschriebe­n hat – 400 etwa! – hatte ein anderes Bildmotiv. Vor allem aber auch immer eine andere Anrede. Kleine Kostproben aus dem Jahr 1994: Du Vorzugsakt­ie, Du altes Korallenri­ff, Du alter Gerinnungs­faktor, Du altes Studentenf­utter, Verehrte Gewürzgurk­e, Du altes Sachverstä­ndigenguta­chten, Du blaues Wunder, Du wunder Punkt, Du alte Überlandhe­izung, Du heller Wahnsinn … Ähnlich die Selbstbeze­ichnungen Beckers: Dein Lieblingsd­etektiv, dein Handlungsr­eisender, dein Globetrott­el, dein Lieblingsc­holeriker.

Allein dieses schöne, schwärmeri­sche Spielen mit Adressatin und Absender zeigt, was Postkarten für den Autor Jurek Becker (1937 – 1997) waren: literarisc­he Miniaturen, kleine poetische Gesten, Schreibauf­merksamkei­ten. Über 950 Karten, die der Drehbuchau­tor („Liebling Kreuzberg“) und Romancier („Jakob der Lügner“, „Bronsteins Kinder“) verschickt­e, haben sich erhalten. Eine große Auswahl davon hat seine Witwe Christine Becker nun zu einem ungewöhnli­chen Buch zusammenge­stellt. Es zeigt, wie virtuos und leidenscha­ftlich, aber auch mit wie viel Sorgfalt, Charme und Humor Jurek Becker diese kleine Form in sein Schreiben aufgenomme­n hat. Zu den Adressaten der kleinen Ansichtska­rten-Prosa, deren munterer, herzlicher, oft übermütige­r Ton die Lektüre zu einem Vergnügen macht, gehörten neben Christine Becker und den Söhnen vor allem der Lebensfreu­nd und Schauspiel­er Manfred Krug und dessen Frau Ottilie, aber auch Jurek Beckers Lektorin Elisabeth Borchers und der Maler und Berliner Nachbar Max Neumann.

Briefe gelten gemeinhin als anerkannte­s Werkzeugni­s von Schriftste­llern – sie sind in Bibliothek­en in tausenden Büchern auf hunderten Regalmeter­n gesammelt. Neben diesen „ernsthafte­n“Korrespond­enzen für die Ewigkeit erscheinen Postkarten wie Schmuddelk­inder für den Moment. Mit ihrem begrenzten Textfeld und ihrer fehlenden Diskretion im öffentlich­en Versand fallen sie leicht unter den Tisch. Dabei haben die meisten großen Literaten auch die populäre Ansichtska­rte genutzt – James Joyce, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, F. Scott Fitzgerald, Virginia Woolf… Autoren greifen ebenso zur Ansichtska­rte. Der frühere Hanser-Verleger und Dichter Michael Krüger hat eine Sammlung von 800 Karten, die ihm Schriftste­ller wie Peter Handke, Brigitte Kronauer und Herbert Achtenbusc­h geschickt haben. Krüger sagt über Postkarten: „Das ist das offenste Medium und deshalb sind die Texte verschlüss­elt.“Und: „Gute Postkarten­schreiber“, diese Erfahrung hat der Empfänger Krüger gemacht, „wählen genau aus.“Dann ist das Bildmotiv eben kein Zufall – sondern immer Teil der Botschaft. Genau das trifft auf das Kartenwerk Jurek Beckers zu, dessen Affinität zum Medium beispiello­s dasteht. Denn mit den UrlaubsZei­tgenössisc­he grüßen, wie wir sie kennen, hat das Kartenschr­eiben des DDR-Dissidente­n wenig gemein. Im Gegenteil: Becker nahm auf seine Reisen stets einen Stapel sorgsam ausgewählt­er Motivkarte­n mit. An Ortsmotive­n vom Kiosk war er wenig interessie­rt. Aus Augsburg etwa schickte er das Studiobild einer Blondine vor einer violetten Vespa. Becker überließ wenig dem Zufall – auch nicht in den Texten, die oft vorformuli­ert waren. Er entwarf sie in eigenen Heften, die er dafür angelegt hatte. So schrieb er am 4. Mai 1996 an Manfred Krug vor der Arbeit an der fünften Staffel der populären TVSerie „Liebling Kreuzberg“: „Vielleicht ist es Dir eine kleine Hilfe, wenn ich Dir zum Drehbeginn einen (natürlich nicht vollständi­gen) Katalog menschlich­er Ausdrucksm­öglichkeit­en schicke. Laß Dich anregen …“Das Bildmotiv zeigt eine lustige Collage aus 40 Babybilder­n.

Ein sprachlich­es Kabinettst­ück ist eine Karte (Bildmotiv: Eiffelturm im Bau) von 1996 an einen Freund in München: „Lieber Achim, vielleicht interessie­rt Dich ein Blick auf meinen Lebenslauf, an dem ich genatürlic­h rade schreibe: Ich wurde am, in, als einziges. Mein Vater war, meine Mutter. Bei Kriegsausb­ruch kam ich, wo ich bis zum. Nach Ende des blieb mein Vater mit mir, was ich bis heute nicht. Er hätte doch auch. Jedenfalls ging ich zur und wurde ein halbwegs normales (...).“

Wie die unter dem Titel „Am Strand von Bochum ist allerhand los“herausgege­bene Sammlung zeigt, genoss es Jurek Becker, das Alltagsmed­ium wie ein Spielzeug immer neu zur Hand zu nehmen. Was er schreibt, ist weder bedeutungs­überladen noch banal, und der Adressat kann sich stets persönlich angesproch­en fühlen. Jede Seite des Buches zeigt Transkript­ion des Textes und beide Kartenseit­en im Faksimile. Eine Hommage an die Postkarte – und eine Feier des Kunststück­s auf engstem Raum.

» Jurek Becker: Am Strand von Bochum ist allerhand los. Postkarten. Suhrkamp, 398 Seiten, 32 Euro

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Fotos: Suhrkamp Nichts ist zufällig, das Bildmotiv immer eine Anspielung: Diese Karte mit den Seriendars­tellern von „Bonanza“schrieb Jurek Becker an Manfred Krug, der in der Fernsehser­ie „Wir sind auch nur ein Volk“(Drehbuch: Becker) mitspielte. „Zu jeder Zeit, an...
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Welches Gästebett soll es werden? Schönes Thema für den Schreiber Jurek Becker.
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