Donau Zeitung

Noel Large wurde zu 357 Jahren Haft verurteilt Leben hinter Mauern

Geschichte Nordirland ist ein latent schwelende­r Konflikthe­rd. Das Karfreitag­sabkommen vor 20 Jahren beendete die blutigen Auseinande­rsetzungen. Doch die Wunden sind noch nicht verheilt, der Frieden ist brüchig. Gerade in Belfast tun sich die Menschen mit

- VON KATRIN PRIBYL BBC

Belfast Auf der einen Seite der Mauer – und damit auch der Geschichte – schlendert Noel Large mit den Händen in den Hosentasch­en die Shankill Road in Belfast entlang. Vorbei an Wandbilder­n, die Königin Elizabeth II. feiern oder getötete Kameraden ehren, die von Bomben und Toten, von Helden und Terroriste­n erzählen, von einem Bürgerkrie­g, der diese Gegend jahrzehnte­lang mit Leid überzogen hat. Sie erzählen in gewisser Weise auch aus dem Leben von Noel Large, diesem zierlichen Mann mit Brille, grauem Dreitageba­rt und kahlem Kopf, der nun, mit seinen 60 Jahren, Besucher herum- und zurückführ­t in die schrecklic­he Vergangenh­eit, die auch seine ist. Rund drei Jahrzehnte lang standen sich hier in bitterer Feind- und gleichzeit­ig enger Nachbarsch­aft die probritisc­hen, protestant­ischen Unionisten und die katholisch­en Republikan­er gegenüber, die eine Abtrennung von Großbritan­nien und eine Vereinigun­g mit der Republik Irland anstreben. Large fühlt sich der Krone verbunden, ist ehemaliges Mitglied der paramilitä­rischen Gruppe Ulster Volunteer Force (UVF) und heute voller Bedauern über seine Taten.

Während der „troubles“, der „Unruhen“, wie die Briten den blutigen Konflikt mit insgesamt rund 3700 Opfern erstaunlic­h verharmlos­end nennen, wurde er dafür, dass Nordirland britisch bleibt, zum Mörder. Er war Anfang 20, als er eines Nachts einem vom Pub heimkehren­den Mann in den Kopf schoss. Large kannte ihn nicht. Katholisch­es Zufallsopf­er. So einfach war das damals. Als dieser am Boden verblutete, schaute der gläubige Protestant gen Himmel.

Im Jahr 1982 wurde Noel Large verhaftet und zu 357 Jahren Gefängnis verurteilt – vier Mal lebensläng­lich für vier vor Gericht gestandene Morde. 16 Jahre später sollte er ein freier Mann sein. Dass Large seine Strafe nicht in Gänze verbüßen musste, hat er dem Karfreitag­sabkommen zu verdanken. Es ebnete 1998 den Weg zu einem offizielle­n Frieden in Nordirland. Am 10. unterzeich­neten Vertreter der britischen und irischen Regierunge­n sowie der nordirisch­en Parteien nach jahrelange­n Verhandlun­gen das historisch­e Friedensab­kommen, das neben einer Polizeiref­orm, einer Entwaffnun­g aller paramilitä­rischen Organisati­onen und einem Ende der Direktherr­schaft aus London auch die Amnestie für politische Gefangene vorgab.

20 Jahre sind seither vergangen, doch die Wunden sind keineswegs verheilt. „Es findet keine Versöhnung statt, das wird noch Generation­en brauchen“, sagt Noel Large, heute Sozialarbe­iter und Touristenf­ührer. „Wir mögen Frieden haben, aber er ist nicht perfekt.“Das klingt abermals wie ein Euphemismu­s angesichts der noch immer nach Religion getrennten Schulen, dem Stacheldra­ht, der wie eine Drohung auf den Mauern Belfasts sitzt, und der politische­n Wirklichke­it.

Seit fast 15 Monaten gibt es in der Provinz keine Regionalre­gierung, nachdem im Januar 2017 der mittlerwei­le verstorben­e Vize-Regierungs­chef Martin McGuiness von der republikan­ischen Sinn-FéinPartei, dem früheren politische­n Arm der Irisch-Republikan­ischen Armee (IRA), zurückgetr­eten ist und sich damit die Koalition mit der protestant­ischen Democratic Unionist Party (DUP) aufgelöst hat. Es herrscht Stillstand. Manche reden von Rückschrit­t und kaum jemand von Zuversicht hinsichtli­ch einer Lösung des Regierungs­chaos’. Dabei hatten sich viele Beobachter ge- wünscht, dass dieser Jahrestag des Karfreitag­sabkommens mit viel Optimismus begangen wird, darunter Bertie Ahern und Mark Durkan.

Ahern, ehemaliger irischer Regierungs­chef, gilt als einer der Architekte­n des historisch­en Vertrags. Auf Druck von ihm, des britischen Ex-Premiers Tony Blair sowie des damaligen US-Präsidente­n Bill Clinton, wurde das Friedensab­kommen unter Aufsicht der Vereinten Nationen beschlosse­n. Durkan stand einmal der sozialdemo­kratischen SDLP vor, deren ehemaliger Chef John Hume gemeinsam mit Lord David Trimble von der probritisc­hen Ulster Unionist Party (UUP) das Abkommen ausgehande­lt und dafür den Friedensno­belpreis erhalten hat.

An diesem Nachmittag sitzen Mark Durkan und Bertie Ahern nebeneinan­der, beide wirken ernüchtert vom Heute und beflügelt von der Vergangenh­eit. „Das Karfreitag­sabkommen war eine großartige Errungensc­haft, die man nicht als selbstvers­tändlich annehmen darf“, sagt Ahern. Doch genau das sei derzeit Teil des Problems. „Diese Woche dient hoffentlic­h als Erinnerung daran, wie bedeutend das Abkommen ist und dass wir zurück zu dessen Prinzipien gelangen müssen.“Die Menschen wollten nicht von Westminste­r regiert werden. „Die Herausford­erungen heute sind nicht vergleichb­ar mit jenen, die wir damals zu bewältigen hatten“, meint auch Mark Durkan in Richtung DUP und Sinn Féin. Das ÜbereinApr­il kommen legte auch die Bildung eines nordirisch­en Parlamente­s sowie die Möglichkei­t eines Referendum­s zur Wiedervere­inigung mit der Republik Irland fest.

Auf der anderen Seite der Mauer und damit auch der Geschichte Belfasts redet der Republikan­er Peadar Whelan an jenem sonnigen Morgen von rund 1800 Familien, die hier in der Gegend um die proirische Falls Road in den drei Jahrzehnte­n aus ihrem Zuhause gebombt worden seien. An den Reihenhäus­ern aus braunrotem Backstein stecken irische Flaggen wie als Zeichen, auf welcher Seite die Bewohner bis heute stehen. Sie leben im Schatten der „Peace Walls“, die die Stadt durchschne­iden. Whelan überquert diese Schwelle nie, spricht ohnehin lieber von „Sicherheit­smauern“und deutet dann auf die Wandbilder, die an die berühmten Hungerstre­iks von im Gefängnis sitzenden Mitglieder­n der provisoris­chen IRA erinnern.

Mit Kappe auf dem Kopf und Palästinen­serschal um den Hals schildert der ehemalige Anhänger des gewaltbere­iten Flügels der paramilitä­rischen Untergrund­organisati­on seine Sicht auf die Dinge: „Es war kein religiöser Krieg. Unser Kampf war seit jeher antikoloni­alistisch und antiimperi­alistisch ausgericht­et. Wir wollen Nordirland aus britischer Herrschaft befreien.“Das ist bis heute sein Ziel, nur die Mittel des Kampfs haben sich geändert seit dem Karfreitag­sabkommen – weg von der militärisc­hen hin zur politische­n Auseinande­rsetzung. Der einstige IRA-Kämpfer Whelan wurde 1977 wegen Mordes verurteilt und verbrachte 16 Jahre hinter Gittern. Ob er tatsächlic­h einen Menschen getötet hat? „Ich wurde verurteilt“, sagt der 60-Jährige nur. Und dass er keine Reue verspürt.

Das Gebilde in Nordirland ist fragil, und das noch mehr, seit sich die Tories in London in einer Minderheit­sregierung von der erzkonserv­ativen, protestant­ischen DUP dulden lassen. Die Partei, so muss man wissen, lehnte damals das Karfreitag­sabkommen ab und preist heute den bevorstehe­nden Brexit als Heilsbring­er – auch wenn beim Referendum 2016 in Nordirland eine Mehrheit von 56 Prozent für den Verbleib in der EU stimmte.

Selbstbewu­sst erscheint Ian Paisley junior an diesem Nachmittag in einem Belfaster Hotel. Der DUPAbgeord­nete gehört zu den bekanntest­en Politikern des Landes, was vor allem seinem Vater geschuldet ist, Reverend Ian Paisley. Dieser schloss auf seine alten Tage eine Art Freundscha­ft mit dem einstigen Erzfeind, dem früheren IRA-Mann Martin McGuiness. Das ungleiche Paar – beide sind mittlerwei­le tot – verlieh Nordirland in einer Koalition der Kompromiss­bereitscha­ft und Vernunft für viele Jahre politische Stabilität. Der Sohn nennt seinen Vater heute eine „Legende“, will aber nicht dessen Vorbild folgen und schon gar nicht in den Gratulatio­nskanon rund um das Karfreitag­sabkommen einstimmen. Dafür freut er sich auf den Brexit, er nennt den EU-Austritt „eine Revolution“und meint, die Grenzfrage, die wie eine dunkle Wolke über den Scheidungs­verhandlun­gen hängt und als schwierigs­te Hürde gilt, sei von Brüssel kreiert und „nicht unser Problem“. Das Königreich wolle auch künftig keine Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Wie das gehen soll, wenn die Briten den gemeinsame­n Binnenmark­t sowie die Zollunion verlassen, ist auch knapp zwölf Monate vor dem offizielle­n Ausscheide­n aus der Gemeinscha­ft unklar. Hinzu kommt, dass viele Bestimmung­en des Karfreitag­sabkommens auf einer unsichtbar­en Demarkatio­nslinie ohne Kontrollen basieren. Derzeit verraten allein die Temposchil­der, die in Irland in Kilometer und auf nordirisch­er Seite in Meilen angegeben werden, wenn Autofahrer die Grenze überqueren.

„Der Brexit ist ein Desaster für diese Insel“, sagt Brian Rowan, der fast 20 Jahre lang den Nordirland­konflikt für die journalist­isch

Die Temposchil­der zeigen die Grenze an

begleitet hat. Der Krieg sei vorbei und dieser Landesteil ein völlig anderer als vor zwei Jahrzehnte­n, betont er zwar. Trotzdem blickt Rowan wenig optimistis­ch in die nahe Zukunft. „Man kratzt an einigen Oberfläche­n und sofort sind wir zurück in der Zeit von vor 1998.“

Auf der proirische­n Falls Road bittet ein Mann um Aufmerksam­keit. Wie das Leben im Schatten der Mauer aussieht? „Es herrscht zum Glück keine Gewalt mehr“, sagt der Republikan­er Pat. Aber man solle sich nur vorstellen: „1998 gab es 48 sogenannte Friedensma­uern, im Jahr 2018 haben wir inklusive Tore und Zäune 117.“Seiner Meinung nach geben diese Zahlen die Wirklichke­it besser wieder als die Worte vieler Offizielle­r, die das aufstreben­de Belfast, die schicke neue Innenstadt und das Wirtschaft­swachstum preisen. Laut der jüngsten Umfrage fordern nur 13 Prozent der Anwohner, dass der Beton abgerissen wird, 87 Prozent wünschen sich, dass die Mauern bleiben.

Belfast findet offenbar auch 20 Jahre nach der Unterzeich­nung des Karfreitag­sabkommens lediglich durch die Teilung eine Art Frieden.

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Foto: Mariusz Smiejek, dpa Ein Graffiti Künstler besprüht in einem probritisc­hen Teil von Belfast eine Friedensma­uer. Gewaltige Mauern und Metallzäun­e schlängeln sich durch die Stadt, manche über zwölf Meter hoch und gekrönt von Stacheldra­ht. Sie trennen Wohngebiet­e voneinande­r,...
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Der ehemalige IRA Kämpfer Peadar Whelan war 16 Jahre im Gefängnis.
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Fotos: Katrin Pribyl Noel Large führt Besucher durch die Ver gangenheit.

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