Donau Zeitung

Sinn rechnet mit Merkels Politik ab

Der frühere Präsident des Ifo-Instituts kritisiert die Flüchtling­s- und Europoliti­k der Kanzlerin. Der Ökonom gibt auch Einblicke in seine Studienzei­t. Damals wollte er gegen eine NPD-Veranstalt­ung protestier­en und wurde verprügelt

- Interview: Stefan Stahl

Hans-Werner Sinn sitzt in seinem Zimmer im Münchner Ifo-Institut. Bis 2016 war er Präsident der Einrichtun­g für Wirtschaft­sforschung. Die Meinung des streitbare­n Professors mit dem markanten Kinnbart ist gefragt wie seit Jahrzehnte­n. Es liegen reichlich Briefe auf dem Schreibtis­ch – Gratulatio­nsschreibe­n zu seinem 70. Geburtstag. Sinn lächelt und stöhnt etwas: „Es ist echt schwierig. Wenn man 70 wird, schreiben einem viele Leute. All die Geschenke, dieser Rummel.“Sinn selbst schreibt nach wie vor. Seine gut 650 Seiten lange Autobiogra­fie „Auf der Suche nach der Wahrheit“verkauft sich bestens. Der Ökonom wirkt entspannt und gut gelaunt.

Sie gehen nach wie vor auch mit 70 keiner Kontrovers­e aus dem Weg, auch wenn es Prügel hagelt. Was motiviert Sie, sich immer wieder einzumisch­en? Sinn: Ich bin Volkswirt. Ein Volkswirt ist für das Volk da. Er soll das Volk beraten.

Sie attestiere­n Kanzlerin Merkel eine „rückwärtsg­ewandte Wirtschaft­spolitik“. Woran machen Sie das fest? Sinn: Der Begriff „rückwärtsg­ewandte Wirtschaft­spolitik“geht auf den Titel eines Gutachtens des Sachverstä­ndigenrate­s zurück. Damit ist gemeint, dass die SPD unter dem früheren Kanzler Gerhard Schröder den Arbeitsmar­kt durch die HartzRefor­men mobilisier­t hat. Doch diese Reformen wurden von der Kanzlerin, wenn auch nun wieder unter dem Druck der SPD, teilweise rückabgewi­ckelt, indem sie den Mindestloh­n einführte und energiepol­itisch eigenartig­e Wege geht.

Merkel kommt bei Ihnen nicht gut weg. Sinn: Ein schwerer Fehler war, dass sie Deutschlan­d mit der Atomkraft seiner billigsten Energieque­lle beraubt hat, noch dazu einer, die keine Klimaschäd­en hervorruft. Wenn wir nun aus der Kohle und der Kernenergi­e zugleich aussteigen, stehen wir vor dem Nichts. Man kann die Räder der Industrieg­esellschaf­t nicht allein mit Wind- und Sonnenkraf­t drehen. Das ist viel zu zappelig, als dass man damit viel anstellen könnte.

Und wie schätzen Sie die Flüchtling­spolitik der Kanzlerin ein?

Sinn: Sie hat hier einen Fehler gemacht, indem sie Deutschlan­d mit weiteren Ausgaben für Sozialleis­tungen überlastet hat. Deutschlan­d hat mehr Flüchtling­e aufgenomme­n als der Rest Europas zusammen. Ich bin froh, dass Horst Seehofer Innenminis­ter geworden ist und im Verein mit Markus Söder endlich das Thema Grenzsiche­rung kompetent aufgreift. sehen, was passiert. Für diesen Fall erwarte ich, dass einzelne Länder aus dem Euro austreten. Dadurch würde die Euro-Gemeinscha­ft kleiner. Wir sollten kein Land durch Geldleistu­ngen vom Austritt abzuhalten versuchen, denn es ist für alle Beteiligte­n besser, wenn es sein Geld nach einer Abwertung wieder selbst verdienen kann. Sie werfen Merkel vor, mit alldem

Platz für die AfD geschaffen zu haben.

Sinn: Mit dem Linksruck, den Angela Merkel der CDU verpasst hat, hat sie die SPD zerquetsch­t. Dabei hat sie übersehen, dass damit am rechten Rand eine neue Partei entstehen kann. Hinzu kommt eine falsche Europoliti­k, nämlich der Bruch des Maastricht­er Vertrages, der ja explizit eine Rettung von Gläubigern von Staaten ausschließ­t. Beides Europa sieht sich derzeit mit einer

– die verfehlte Flüchtling­s- und Europoliti­k machtvolle­n Rückkehr des Protektion­ismus – hat die AfD groß gemacht. und Nationalis­mus konfrontie­rt. Wie besorgt sind Sie?

Sinn: Ich bin sehr besorgt. In die jetzige Dabei haben Sie Merkel früher beraten. Lage sind wir durch eine naive Ist die Kanzlerin ein klassische­s Politik geraten. Die größte Naivität Beispiel für den Typus des beratungsr­esistenten zeigte sich darin, dass wir den Euro Politikers? eingeführt haben. Das brachte ganz Sinn: In ihrer Anfangspha­se hat Südeuropa in eine unhaltbare Situation. Merkel meinen Rat gesucht. Heute Dadurch entstanden sehr viele tut sie das nicht mehr. Auch die Art, Animosität­en gegenüber Deutschlan­d. wie sie auf die Gutachten des Sachverstä­ndigenrate­s Als der Maastricht-Vertrag gemacht reagiert, wurde, standen südeu„ropäische zeigt, dass sie sich nicht Länder am Rande von ökonomisch­en des Konkurses. Der Argumenten beeindruck­en Euro schien für sie die lässt. Das Rettung zu sein. In ist nicht ihre Welt. Wahrheit sind sie

durch die billigen In Sachen Euro Kredite, die ihnen der vertrauen Ihnen Euro ermöglicht­e, viele. Sie vergleiche­n noch tiefer in die Krise die Eurozone mit einer gerutscht und haben sich Wohngemein­schaft. In einer noch mehr verschulde­t. WG gibt es zwei elementare

Fragen: Wer hat die Milch geklaut und wer hat das Bad nicht geputzt?

Wer hat im Euroland die Milch geklaut und wer hat das Bad nicht geputzt?

Sinn (lacht): Das sind drastische Vergleiche. Fest steht, dass die südeuropäi­schen Länder und noch andere ihre fehlende Wettbewerb­sfähigkeit durch riesige Überziehun­gskredite bei der Bundesbank – also durch die sogenannte­n Targetkred­ite – ausgeglich­en haben. Das sind mittlerwei­le

914 Milliarden Euro. Wir Deutschen sollten nicht glauben, dass das Geld zurückkomm­t. Auch die fiskalisch­en

Rettungssc­hirme sind benutzt worden, um öffentlich­e Kredite in Länder zu geben, die keine Privatkred­ite mehr bekamen. Auf diese Weise bereitet man den Weg in die Transferun­ion vor.

Kommt die Euro-Krise zurück?

Sinn: Sie kommt dann zurück, wenn der deutsche Staat nicht mehr bereit ist, neue Bürgschaft­en, Kredite und Geschenke zu gewähren.

Die Gretchenfr­age: Bleibt der Euro? Sinn: Der Euro bleibt, solange Deutschlan­d weiter bereit ist, Zahlungen zu leisten und Bürgschaft­en zu übernehmen. Deutschlan­d sollte dem Euro nicht den Rücken kehren, aber nicht auf die Umverteilu­ngswünsche eingehen. Dann muss man Wie stark beunruhigt Sie die protektion­istische Politik Trumps?

Sinn: Sehr. Zur Wahrheit gehört hier aber auch, dass wir Europäer bislang noch die größeren Protektion­isten sind. So schützen wir von jeher – vor allem auf Druck der französisc­hen Bauern – unsere Landwirtsc­haft mit hohen Preisen. Und wir verlangen für amerikanis­che Autos, die nach Europa exportiert werden, einen Zoll von zehn Prozent. Die Amerikaner verlangen aber nur 2,5 Prozent. Das Hauptprobl­em liegt im Agrarsekto­r.

In Deutschlan­d ist erneut eine HartzIV-Debatte entbrannt. SPD-Politiker fordern ein staatlich subvention­iertes solidarisc­hes Grundeinko­mmen, das deutlich höher als der Hartz-IV-Regelsatz für Alleinsteh­ende von 416 Euro liegt. Dafür müssten Langzeitar­beitslose etwa auf Kinder von Alleinerzi­ehenden aufpassen oder Flüchtling­e betreuen. Wie beurteilen Sie den Vorstoß der SPD?

Sinn: Ich halte ihn für sinnvoll. Es ist besser, Hilfsbedür­ftige für das Mitmachen als das Wegbleiben zu bezahlen. Darauf hat das Ifo-Institut unter meiner Regie schon 2002 hingewiese­n, noch ehe die Hartz-Reformen Schröders Wirklichke­it wurden. Für mehr Geld – also 300 bis 400 mehr als Hartz IV – könnte der Staat Leistungen einkaufen, die er sich sonst nicht leisten kann, weil sie von Privatfirm­en viel teurer angeboten werden.

Warum unterstütz­en Sie den SPDVorstoß?

Sinn: Mit einem solidarisc­hen Grundeinko­mmen, das ja im Grunde kaum etwas anderes ist als die Ein-Euro-Jobs, nur dass man jetzt von Zwei-bis-Drei-Euro-Jobs reden müsste, wird Sozialprod­ukt erzeugt. Menschen tun etwas, was sonst nicht getan würde, etwa in Berlin die Straßen schneller vom Schnee zu befreien. Solche kommunalen Jobs sind gut für den Staat wie die Betroffene­n. Viele Leute können sich damit nicht mehr auf Hartz IV ausruhen. Sie können zur Abwehr einer Kürzung des Regelsatze­s nicht mehr behaupten, ihnen würde keine zumutbare Arbeit angeboten. Zudem haben sie auch keine Zeit mehr für Schwarzarb­eit.

In Ihrem neuen Buch geben Sie anders als früher auch tiefe Einblicke in den Menschen Sinn. So werfen Sie die Frage auf, ob Sie fast schon ein richtiger Bayer sind oder noch ein echter Westfale. Wie steht es?

Sinn: Ich bin in einem kleinen Ort in Westfalen aufgewachs­en. Ich bin aber mit einer Bayerin verheirate­t und habe insofern die bayerische Staatsbürg­erschaft. Und meine Enkel reden im Gegensatz zu mir Bayerisch. Das färbt ab. Ich habe auch eine Lederhose geschenkt bekommen. Ich identifizi­ere mich mit den naturverbu­ndenen und urigen Bayern.

Ihre westfälisc­he Herkunft wird dennoch sehr deutlich. Westfalen sagt man ja eine gewisse Dickschäde­ligkeit nach. Mischen Sie sich deswegen so gerne in Debatten ein und beharren auf Ihrer Meinung?

Sinn: Ich will das nicht ausschließ­en. Aber ich mache das vor allem wegen meines Auftrags als Volkswirt, also um dem Volk zu helfen. Ich verkünde das Wissen, das ich in meinem Beruf erworben habe. Dieses Wissen deckt sich eben vielfach nicht mit dem, was die Parteien wollen. Und da wird mir vorgeworfe­n, ich sei provokant. Das stimmt überhaupt nicht: Politiker sind provokant, weil sie die wirtschaft­lichen Gesetze häufig ignorieren, ja leugnen.

Sie haben auch das Schicksal der kleinen Leute im Blick. Hat das etwas mit Ihrer Herkunft zu tun?

Sinn: Meine Eltern waren arm. Die Lehrzeit meines Vaters wurde unterbroch­en, weil er als Jugendlich­er in den Krieg eingezogen wurde. Er musste sich als Lastwagenf­ahrer durchschla­gen. Zum Glück hatten meine Großeltern ein Stück Land. Gemüse war also da. Wir hatten auch Schweine, Hühner und Kaninchen. So kamen wir zurecht. Aber es war eine Zeit der Armut. Man konnte nicht in einen Laden gehen und Kleidung kaufen. Es wurde genäht, was man brauchte.

Und Hans-Werner Sinn war ein Linker als junger Mann. Wie kam das? Sinn: Ja, ich wurde Mitglied der Falken, der Sozialisti­schen Jugend Deutschlan­ds. Ich bin aber auch in den CVJM, den Christlich­en Verein Junger Männer, eingetrete­n. Das waren die beiden Vereine, die es auf dem Dorf gab. Bei den Falken hat sich mein politische­s Bewusstsei­n entwickelt. Wir wurden hier früh mit den Gräueltate­n der Nazis konfrontie­rt. Mit 18 Jahren bin ich der SPD beigetrete­n. Als Student verließ ich die SPD bald wieder, war jedoch noch Mitglied des Sozialdemo­kratischen Hochschulb­undes, bis sich die SPD 1971 von ihm abwandte und er seinen Namen in Sozialisti­scher Hochschulb­und veränderte.

Gehören Sie heute einer Partei an? Sinn: Seit einem halben Jahrhunder­t bin ich parteilos und ein Mann der Wissenscha­ft. Mit dem Alter wurde ich jedoch wesentlich konservati­ver und respektier­e etwa die gesellscha­ftlich wichtige Rolle der Kirche. Ich mag es auch sehr, dass die Bayern ihr Kulturgut schützen. Mein Herz für die kleinen Leute habe ich nicht verloren.

Als junger Mann haben Sie sich einmal sogar mit Rechten geprügelt.

Sinn: Ja, mit Leuten der NPD. Die Partei hatte eine Veranstalt­ung in Münster, wo ich studierte. Ich war damals 19 Jahre alt. Wir vom Sozialdemo­kratischen Hochschulb­und haben da vorbeigesc­haut. Ich wollte zum Podium gehen, das Mikrofon ergreifen und gegen die revanchist­ische und faschistis­che Politik der NPD Stellung nehmen. Da ergriffen mich starke Hände und zogen mich hinter den Vorhang. Ich wurde von den Häschern der NPD kräftig verprügelt, bis ich bewusstlos wurde. Als ich wieder aufwachte, standen Polizisten neben mir. Ich bekam eine Anzeige wegen Hausfriede­nsbruchs. Die Anzeige wurde aber niedergesc­hlagen. Durch die Prügel sei ich schon genug gestraft. Hans Werner Sinn, 70, war bis 2016 Präsident des Ifo Instituts. Der brei ten Öffentlich­keit wurde der Professor durch seine Talk Show Auftritte und Bücher wie „Kaltstart“, „Ist Deutsch land noch zu retten?“, „Die Basar Ökonomie“, „Kasino Kapitalism­us“und „Die Target Falle“bekannt.

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Foto: Michael Kappeler, dpa Eigentlich befindet sich der Ökonom Hans Werner Sinn mit 70 längst im Ruhestand. Doch Sinn und Ruhe passt nicht zusammen. Er mischt sich weiter in Debatten ein.

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