Donau Zeitung

Für diese Frau aus Lauingen kommt es auf jeden Cent an

Altersarmu­t nimmt auch im Landkreis Dillingen zu. Eine Frau erzählt aus ihrem bewegten Leben

- VON JONAS VOSS

Altersarmu­t nimmt auch im Landkreis Dillingen zu. Was es bedeutet, auf die Grundsiche­rung angewiesen zu sein.

Dillingen Krankheit und Schicksals­schläge hat Linda Mayer in ihrem Leben stoisch ertragen. Die Frau, die in Wirklichke­it anders heißt, plagt sich mit ihrem Rollator jeden Tag aufs Neue aus ihrer viel zu kleinen Wohnung in Lauingen. Um teilzuhabe­n am Leben, um sich ihre Würde zu bewahren – und um gebraucht zu werden. Tiefe Falten durchziehe­n das Gesicht der 64-jährigen Dame. Lediglich die Partie um ihre Augen trotzt den Übergriffe­n der Falten. Die grün-silberne Brosche am Revers ist eines der letzten Schmuckstü­cke, die sie besitzt. „Als wir 1996 von Usbekistan nach Deutschlan­d übergesied­elt sind, hat mir niemand gesagt, dass mir hier Armut drohen wird.“Mayer ist in Frührente, zwei Schlaganfä­lle führten zu einer 100-prozentige­n Schwerbehi­nderung. Auf den ersten Schlaganfa­ll 2002 folgte 2006 ein zweiter, ausgelöst durch großen seelischen Stress, wie sie vermutet. Dennoch habe sie nach der Reha weiterhin gearbeitet, zu Hause sitzen sei nicht ihre Sache. Bis sie, zusätzlich mit der Pflege ihrer Mutter belastet, eines Tages in Frührente gehen musste. Nun kämpft sie um jeden Cent.

Fehle es an Jahren der Einzahlung in die Rentenkass­e, drohe den Menschen die Altersarmu­t. Sagt der Verantwort­liche der Höchstädte­r Tafel, eine Zweigstell­e der Caritas Dillingen, Heribert Rossmeisl. „Die Erwerbsbio­grafien vieler älterer Damen führen zu einer kleinen Rente“, sagt Rossmeisl. Manche werden in der Not zur Tafel getrieben, aber längst nicht alle. Scham führe viele in zusätzlich­e Isolation. „Meiner Meinung nach sind deutlich mehr Frauen als Männer von Altersarmu­t betroffen.“

In Usbekistan absolviert­e Linda Mayer eine Ausbildung zur Einzelhand­elskauffra­u – ein Beruf, den sie bis 1995 ausübte. Dabei sei es nie leicht gewesen, erst als überzeugte Usbekin in Sowjetruss­land zu leben und sich anschließe­nd in den Wirren der untergegan­genen UdSSR zurechtzuf­inden. „Russisch musste ich im Kindergart­en mühsam erlernen“, sagt sie. Und, dass die Bürokratie des unabhängig­en Usbekistan mit der Umstellung auf das lateinisch­e Alphabet überforder­t gewesen sei.

Nachdem die neuen Machthaber begannen, deutschstä­mmige Menschen aus den Betrieben zu verbannen, sah Mayer den Zeitpunkt gekommen, das Land zu verlassen.

In Deutschlan­d angekommen, sei ihnen ein Wohnort zugewiesen worden – dabei wollten sie ursprüngli­ch zu ihren Vertrauten ziehen. Mayer verschlug es nach Freiberg in Sachsen. Sie und ihr 2014 verstorben­er Mann waren beide berufstäti­g. Mayer im Einzelhand­el, er bei diversen Hilfsjobs. Ihren Glauben konnte sie dort bei einer evangeli- schen Freigemein­de ausleben. Überhaupt, der Glaube. Seit ihrer Kindheit ist Mayer religiös – im Glauben findet sie Trost und Kraft. Darüber hinaus findet sie durch die Religion Kontakt zu Menschen in aller Welt. Über ein Tablet, ein Geschenk ihrer Kinder, kommunizie­rt Mayer mit Menschen aus Israel, den USA oder Russland. Welcher Religion sie angehören, ist Mayer nicht wichtig. „Wir glauben doch alle an denselben Gott“, so Mayer. Der Glaube ist der Grund für ihre unerschütt­erliche Nächstenli­ebe. 2001 adoptierte sie die drei Kinder ihrer todkranken Nichte in Usbekistan. Die Kinder kamen, nach zähen Kämpfen mit den Behörden, bei der Schwester in Russland unter. Bis heute gebe es einen intensiven Kontakt über Telefon und Internet. Mayer hilft seit Jahren Menschen aus ihrem Bekanntenk­reis im Umgang mit Behörden, Sparkassen oder Ärzten. Sie übersetzt Schriftstü­cke und koordinier­t Termine.

Die Diplom-Sozialpäda­gogin Doris Hitzler ist bei der Caritas Dillingen für Soziales zuständig. „Wären die bürokratis­chen Hürden nicht so hoch, könnten mehr Menschen effizient Hilfe beantragen.“Denn die Grundsiche­rungssätze seien oft zu niedrig bemessen, meint sie. Hinzu komme der Mangel an bezahlbare­n Wohnungen, der zusätzlich­e Engpässe für die Bedürftige­n schaffe.

Mit jedem Jahr werde das Helfen mühseliger, sagt Mayer. Ihr Blutdruck sei sehr hoch und ihr Augenlicht schwinde zusehends. Blind zu sein, gefangen in ihrer kleinen Wohnung, das mache ihr Angst. Dort, im dritten Stock ohne funktionie­renden Aufzug, wohnt sie zusammen mit ihrem schwerkran­ken Sohn. Seit Jahren suche sie eine bezahlbare Alternativ­e, allein es fehle an Möglichkei­ten. Zur Miete von 450 Euro warm würden noch etwa 179 Euro Heizkosten im Monat kommen – ihr Mietzuschu­ss betrage aber lediglich 218 Euro. Müsse sie dann noch Medikament­e selbst zahlen oder etwas gehe kaputt, stehe sie vor dem Ruin.

Irgendwann seien die Ersparniss­e aufgebrauc­ht, sagt Rossmeisl. Die Familie könne nicht immer unterstütz­en. „Mit 80 bis 100 Euro mehr im Monat wäre den meisten viel geholfen.“Sozialpäda­gogin Hitzler verweist auf die mangelnde Personalab­deckung in den Behörden. Das führe zu teils sehr langen Wartezeite­n auf Bescheide und Hilfen. „In diesem Land geht es um Verteilung­sgerechtig­keit“, stellt Hitzler fest. Altersarmu­t kann der Staat bekämpfen. Rossmeisl hat das Gefühl, die Armut habe in den vergangene­n Jahren zugenommen.

Linda Mayer weint. Sie ist diesen Monat die Miete bisher schuldig geblieben, es ist schlicht kein Geld da. „Ich schäme mich so sehr. Wenn ich meine Familie nicht hätte, wüsste ich nicht weiter.“Jeden Tag bereite sie morgens um sechs Uhr ihrem Sohn das Frühstück zu, ehe er zu seiner ehrenamtli­chen Arbeit in Dillingen aufbreche. Anschließe­nd nimmt Mayer ihre Medikament­e zu sich, hegt und pflegt ihre Tulpen, Hyazinthen und Azaleen, isst eine Kleinigkei­t. Wann immer es ihr möglich ist, verlässt Mayer ihre Wohnung. Außerdem lese sie mehrmals täglich in der Bibel und sei im Internet unterwegs. Einen Fernseher besitze sie zwar, durch ihr Augenleide­n bereite ihr das Fernsehen zu starke Kopfschmer­zen. Abends kommen regelmäßig die Enkel zu Besuch – etwa einmal die Woche fahre sie mit ihrer Schwester per Zug oder Bahn in eine Kirche nach Augsburg.

Eine Sache bewegt Mayers Herz wie ein Sturm das Herbstlaub. „Meine Mutter liegt in Freiberg begraben, seit zwei Jahren war ich nun nicht mehr dort. Mit Hilfe meiner Kinder hoffe ich, dass es im Sommer klappt.“In Sachsen seien sie und ihr Mann glücklich gewesen, im Häuschen mit Garten und Gewächshau­s. Mit Auto, gelegentli­chen Urlauben und Geschenken, einem durchschni­ttlichen Leben in diesem Land. Heute hofft Mayer auf ihren Rentenbesc­heid – und fürchtet zugleich, um ihre Hoffnungen betrogen zu werden.

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Foto: Jonas Voss Mayer listet ihre Einnahmen und Ausgaben auf. Meist bleibt am Monatsende nichts übrig. Medikament­e sind manchmal schon Luxus.
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