Hesses Traum vom Landleben war geplatzt Verwurzelt unterm Birnbaum
Dort, wo der Bodensee am stillsten ist, liegt die Halbinsel Höri. Hier lebte Hermann Hesse vorübergehend seinen Traum von einem Zuhause mit Garten
Schlapp hängt die Schweizer Fahne am Mast. Das Schilf steht regungslos wie eine Wand am Ufer des Untersees. Kein Lüftchen weht. Keine Welle platscht gegen die Motorboote am Holzsteg. Schwäne faulenzen. Ein Segelschiff schleicht vorbei. Zu hören sind nur die Rufe der vielen Blässhühner. Sie tauchen im klaren Wasser des Naturschutzgebiets Hornspitze.
Doch nicht nur sie finden hier einen einzigartigen Lebensraum. Wieder und wieder hat es etliche Künstler auf die von der Stille und Ursprünglichkeit geprägte Halbinsel Höri verschlagen. Für manche – wie den Maler Otto Dix – war sie der rettende Rückzugsort. Für andere – wie den Schriftsteller Hermann Hesse – ein Sehnsuchtsort, der ihn auf eine harte Probe stellte.
Hesses „Gaienhofener Umweg“, wie er seinen achtjährigen Aufenthalt am Bodensee später nannte, war ein Experiment für den jungen Schriftsteller und Familienvater – und entscheidend für seine Entwicklung. Ein Aufbruch in ein sesshaftes Dasein, in Häuser statt in häufig wechselnde Zimmer, in ein bürgerliches Familienleben, aus dem er mehrfach auszubrechen versuchte. Wer über die ächzenden Holzbohlen des Hesse-Museums geht und an den nackten Fachwerkwänden über den Schriftsteller liest, der steht mitten in seiner einstigen guten Stube.
Das kleine Bauernhaus neben der Kirche hatte Hesse seit 1904 gemietet – für 150 Reichsmark im Jahr. Es gab dort kein fließendes Wasser, keine Heizung, keinen Strom; und draußen lediglich ein Plumpsklo. Heute ist hier das Museum untergebracht: Hinter fliederfarbenen Fachwerkbalken und grünen Fensterläden können Kulturinteressierte die Schreibmaschine des Literaturnobelpreisträgers begutachten und seinen gewaltigen Schreibtisch umkreisen. Draußen am Dorfplatz regnen Blüten aus den blühenden Bäumen. Es duftet schon nach Lavendel, und die Hortensien knospen. Über den beschaulichen Ort fliegt ein Schwarm Stare. Die Vögel gurren und zischeln, als plauderten sie von der charmanten Villa, über die sie gerade mäandern. Erst als sie die Baumwipfel am Erlenloh besetzen, verstummen sie. Hier, am Hermann-Hesse-Weg 2, steht das einzige Haus, das der spätere Literaturnobelpreisträger selbst errichtete. „Ich habe Wiesen und ein Dutzend Kilometer See vor den Fenstern und ums Haus her meinen bäuerlichen Garten mit vielen Dahlien, Sonnenblumen, Malven und Nelken“, notierte Hesse 1912 über sein zweites Domizil in Gaienhofen. Bis heute blühen seine Dahlien. Noch immer ruht der See vor den Fenstern – nur sind viele der umliegenden Wiesen mittlerweile bebaut.
Im gläsernen Pavillon in Hesses Bauerngarten lehnt ein Sonnenschirm an der Wand. Unter Paprika-Ranken und Physalis-Zweigen wartet eine Besuchergruppe im Glashaus auf ihre Führung. „Des isch wie Kino“, sagt eine ältere Dame mit schwäbischem Dialekt. Ihr Blick huscht aus dem Fenster: Oberhalb des Gartens liegt die Villa mit ihren türkisfarbenen Schindeln und grünen Fensterläden.
Dann betritt die Filmvorführerin den Saal: Eva Eberwein trägt kurze Haare, einen grauen Wollponcho und das Hesse-Erbe in ihrem Herzen. Sie ist Diplom-Biologin und kennt das Hesse-Haus bereits aus ihrer Kindheit; ihre Sommerferien verbrachte sie oft bei ihrer in Gaienhofen lebenden Tante Agathe. „Und seit 2003 bin ich Inhaberin dieses Hauses“, sagt die gebürtige Rheinländerin. Als sie gehört hatte, dass der Garten überbaut und das verwahrloste Haus abgerissen werden sollte, tauschte sie spontan ihren Job als Unternehmensberaterin und Leiterin eines Forschungslabors gegen den als Retterin dieses bedeutenden Kulturguts. Seither hat die engagierte Denkmalschützerin gemeinsam mit ihrem Mann Haus und Garten mühevoll renoviert – genau so, wie sie beides aus ihren ehemaligen Ferienbesuchen in Erinnerung hatte.
„Dort unten liegt Gaienhofen. Dort drüben, im Osten über der Reichenau, geht die Sonne auf. Es ist einfach ein betörend schönes Szenario hier“, schwärmt Eva Eberwein. Wenige Meter weiter, unter der von Hesse selbst gepflanzten Kastanie, steht ein Gartenstuhl: Dies war der Lieblingsplatz des Schriftstellers, der dem Garten wesentlich mehr abgewinnen konnte als dem von ihm selbst konzipierten Haus. Unter Weinranken hindurch sind der See und die sanften Berge der nahen Schweiz zu sehen. Um das Haus und den Garten zu rekonstruieren, hat Eva Eberwein unzählige Briefe des Schriftstellers gelesen, in Archiven recherchiert, in Hesses Haushaltsbuch nachgeschlagen und historische Fotos gesichtet.
Welche Pflanzen hatte Hesse im Haus gezogen und in den Garten gepflanzt? Was in Gartenpläne gezeichnet? Wo Obst und Gemüse in seinem Selbstversorgergarten angebaut? Heute trägt das Grundstück die Handschriften diverser Gärtner – „doch Hesse hat den Garten wie kein anderer geprägt“, sagt Eberwein. Ihre akribische Forschungsarbeit hat sich gelohnt: 2005 wurde das Hermann-Hesse-Haus mit dem baden-württembergischen Denkmalschutzpreis ausgezeichnet. Wer zwischen Tulpen über die schmalen Schotterwege schlendert, kann sich vorstellen, wie der Schriftsteller hier im Frühling den Rasen unter dem Birnbaum mähte.
Doch sein Landleben am Bodensee war ein endliches Abenteuer – und, wie Hesse notierte, „doch nicht ganz, was man poetisch-idyllisch nennt“. Im einsam gelegenen Bauerndorf Gaienhofen gab es lediglich einen Bäcker, keinerlei andere Läden. Einmal am Tag legte ein Schiff ab, zweimal am Tag fuhr die Postkutsche vor. Oft ruderte der Schriftsteller nach Steckborn, ans Schweizer Ufer, um dort einzukaufen und Zigarren zu schmuggeln.
Noch heute ist die Ruhe im Ort bemerkenswert: Grüppchenweise spazieren Kulturinteressierte vom Höri-Museum über das Hesse-Museum zum Hesse-Haus und zurück, machen zwischendurch einen Abstecher ans Ufer des Bodensees, kehren in eine der wenigen Wirtschaften ein. Trubel sieht anders aus.
Schon als er 1903 mit dem Schiff von Meersburg nach Kreuzlingen fuhr, war Hesse fasziniert von der Bodenseeregion: „Die Rathäuser in Überlingen und Konstanz, das Schloß in Meersburg, die Kirchen der Reichenau und die alte Kanzlei in Überlingen gehören zum Allerschönsten, was ich je gesehen habe.“Ein traumhafter Ort also, um Wurzeln zu schlagen? Eva Eberwein weiß, wie schwierig es für den Schriftsteller und seine als Fotografin arbeitende Frau war, im Dorf Fuß zu fassen. „Bloß weil sie anfangs in der Ortsmitte wohnten, glaubten beide, sie wären Teil der Menschen hier. Aber das war nicht der Fall“, sagt die Hesse-Kennerin. Stets hätten sich die Gaienhofener gefragt: „Was wollen die beiden hier?“
Die Antwort ist pragmatischer Natur: Mia Hesse betrieb ihr Fotografie-Atelier in Basel und konnte mit dem Schiff von Gaienhofen nach Steckborn fahren, von dort mit dem Zug nach Basel. Die Höri war für sie ein verkehrsgünstig gelegener Ausgangspunkt.
Gestaunt haben die Gaienhofener, als sich die Familie Hesse ihr Eigenheim bauen ließ: Das 1907 in wenigen Monaten errichtete Landhaus galt als moderner Bau. Im Gegensatz zu seinem Mietshaus neben der Kirche schuf sich Hesse in seiner Villa im Stil der Lebensreform bemerkenswerten Komfort: Im Badezimmer gab es einen marmornen Waschtisch, außerdem einen Badeofen für warmes Wasser. Zwei Toiletten waren vorhanden, drei Öfen – und im Keller war eine Dunkelkammer eingerichtet.
Doch die Schönheit der Natur, das geräumige Haus und der paradiesische Bauerngarten über dem See reichten nicht aus, um den Freigeist am stillen Untersee ankommen zu lassen. Die bürgerliche Existenz mit ihren Herausforderungen, schreiende Kinder, das wenig aufregende Eheleben – all das habe seine Kreativität getötet, sagt Eva Eberwein. In der Gaststätte „Deutscher Kaiser“, die ihr Großvater betrieb, saß der Schriftsteller so manchen Abend beim Schoppen Wein. Ein Kreativer, gestrandet zwischen Feldern, Fischern und Freiheitsdrang. Schon 1912, nach gerade mal fünf Jahren im malerischen Eigenheim, war Hesses Traum vom Landleben geplatzt. Weil ihm der Garten so viel bedeutete, verkaufte er das Grundstück an eine Gärtnerin.
Wehmütig notierte er zum Abschied: „Die Landschaft des Untersees wird mir zeitlebens fehlen, es sprechen an wenigen Orten so stark wie hier zu jedem Fenster herein See und Wald, Himmel und Wiese zu mir.“