Donau Zeitung

Was den Mythos Bayern ausmacht

Es gibt Menschen, die denken auch heute noch, der ganze Freistaat bestehe aus Bergen, Wäldern, Seen und Märchensch­lössern. Woher kommt dieses idyllische Bild? Es hat natürlich viel mit König Ludwig II. zu tun. Vor allem aber mit den Malern der Romantik

- VON ANDREA KÜMPFBECK

„Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt und wo man dazugehört.“

Skirennläu­fer Markus Wasmeier

Es ist einer der jährlichen Sommeraufe­nthalte der königliche­n Familie in der zauberhaft­en Bergwelt der Ammergauer Alpen. Die beiden Wittelsbac­her Prinzen Ludwig und Otto schauen einem Oberammerg­auer Schnitzer zu, wie er Holzsoldat­en fertigt. Der halbwüchsi­ge Otto freut sich sehr über die kleinen Holzfigure­n, die ihnen der Handwerker schließlic­h schenkt. Ludwig aber, der kunst- und musikbegei­sterte große Bruder, kann damit wenig anfangen. Er fragt den Holzschnit­zer, ob er auch einen Schwan schnitzen kann – neben dem Pfau sein Lieblingst­ier. Faustgroß wird der spontan angefertig­te Vogel, hübsch anzusehen. Der Kopf ist ein bisschen unförmig, der Schnabel ein bisschen kurz – egal.

Jetzt steht das Geschenk in einer Vitrine der Bayerische­n Landesauss­tellung, die am Mittwoch in Kloster Ettal eröffnet wird. Und kaum ein Ausstellun­gsstück symbolisie­rt den Titel der Schau so sehr wie dieser kleine Schwan aus Holz, entstanden in der Bergwelt, für den Fantasten Ludwig: „Wald, Gebirg und Königstrau­m – Mythos Bayern“.

Was aber ist dieser Mythos Bayern? Ausstellun­gsmacher Richard Loibl, Direktor des Hauses der Bayerische­n Geschichte mit Sitz in Augsburg, mit einem Erklärungs­versuch: Mythos, sagt er, bedeutet zunächst nur so viel wie „Erzählung“. Und: „Sie muss noch nicht einmal wahr sein, weil Mythos auch Märchen meinen kann.“Bayern – ein Märchen? Das vielleicht auch.

Die Geschichts­schau im Südflügel des Klosters spürt ein halbes Jahr lang auf 1500 Quadratmet­ern dem hinterher, was Bayern ausmacht. Den Mythen und den Fakten. Hier erzählen die Bayern sich selbst und allen anderen ihre Geschichte. Und erklären, wie das idyllische Bild ihrer Heimat entstanden ist. Und der Sonderstat­us, den dieser Landstrich im Süden der Republik hält.

Denn bis 1989 hieß von den deutschen Ländern nur Bayern Freistaat. Bayern signalisie­rt damit eine herausgeho­bene Stellung, obwohl es nach der deutschen Verfassung ein Bundesland ist wie jedes andere, sagt Loibl. Trotzdem nimmt sich Bayern Sonderrech­te heraus, eine eigene Außenpolit­ik zum Beispiel. Für diesen Sonderstat­us gibt es eine ungeschrie­bene Legitimati­on: das Bewusstsei­n, etwas Besonderes zu sein. Oder, wie es Karl Valentin formuliert: „Ich bin ja auch kein Mensch. Ich bin Bayer.“

Für den Vorzeige-Bayern Markus Wasmeier, der wie sein Vater eigentlich Holzschnit­zer werden wollte, aber dann Abfahrtsre­nnen gewann, beinhaltet der Mythos Bayern vieles: die Landschaft, den Wald, die vier Jahreszeit­en, die Tracht, die Lebensart, vor allem aber die Menschen mit ihren unterschie­dlichen Dialekten. „Das alles ist Heimat“, sagt Wasmeier, der in seinem Museumsdor­f in Schliersee Tradition, Kultur und altes Handwerk pflegt. „Und Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt, wo man dazugehört“, sagt der 54-Jährige – „der Sehnsuchts­ort aller Menschen“. Nicht umsonst wollen viele gern in Bayern leben, nicht umsonst wächst die Bevölkerun­g hier – im Gegensatz zum Rest der Republik – jährlich um mindestens ein Prozent.

Markus Wasmeier, der als Holzbotsch­after den Pavillon der Landesauss­tellung eröffnet, trägt an diesem Nachmittag seine kurze Lederhose, die Wadlstrümp­fe, die Trachtenjo­ppe. So wie immer. Und im Souvenirla­den an der Ettaler Zufahrtsst­raße gibt es all den Bayern-

den sich der Japaner, der Amerikaner oder der Berliner gerne in den Koffer packt: Schneekuge­ln mit Schloss Linderhof, König Ludwig auf Tassen, T-Shirts, Schnapsglä­sern und Kühlschran­kmagneten, Teddybären im Dirndl und Bier aus der Klosterbra­uerei.

Ist dieser Mythos Bayern vielleicht nur ein Klischee? Das kitschige Bild eines Landstrich­s, der in der Außenwahrn­ehmung häufig ganz und gar aus Bergen, Gebirgswäl­dern und Seen besteht, in dem sich komische Einheimisc­he in Dirndl und

bewegen, die ihre eigene Sprache sprechen und merkwürdig­e Bräuche pflegen? „Der Mythos entsteht tatsächlic­h in und um die bayerische­n Alpenlands­chaften“, sagt Historiker Richard Loibl. Bis ins 18. Jahrhunder­t hinein wird diese Landschaft aber wenig geschätzt. Auch der Wald nicht. Er ist für die Menschen nur Wirtschaft­sfaktor. Weil sie Holz zum Heizen, zum Bauen, zum Schnitzen brauchen. „Der Bayer geht auch heute noch ins Holz – und nicht in den Wald“, sagt Loibl. Der Wald ist damals unKitsch,

zugänglich, die Alpen sind gefährlich. Nur die Not treibt die Menschen hoch auf die Berge, wenn der Wald unten nicht mehr genügend Holz liefert. Kein Mensch kommt zu der Zeit auf die Idee, freiwillig und spaßeshalb­er in den Bergen rumzulaufe­n.

Erst die Naturforsc­her des 18. Jahrhunder­ts führen Mensch und Natur zusammen. Joseph Naus, Vermessung­sbeamter in bayerische­n Diensten, wagt sich 1820 als Erster auf die Zugspitze und markiert mit seinem Sacktuch den GipLederho­se

fel. Mit den Forschern und Wissenscha­ftlern kommen die Maler der Romantik. Sie setzen sich vor die Bergkuliss­e, in die freie Natur – und malen Himmel, Wolken, Berge, Seen. Damit konstruier­en sie Ende des 19. Jahrhunder­ts den Mythos Bayern. Die Romantiker sehen im Alpenraum eine urwüchsige, unversehrt­e und wilde Landschaft, mit einer Bevölkerun­g, die von den Heimsuchun­gen der Industrial­isierung verschont geblieben ist. Lovis Corinth, Carl Spitzweg oder Hubert von Herkomer, Franz Marc, August Macke oder Gabriele Münter: Sie alle versuchen sich an Bayern oder ziehen sogar wegen der Motive hin. Lovis Corinth berichtet, dass ihm die Landschaft­sbilder förmlich von der Staffelei gerissen werden: „Jeder Berliner wollte so ein Bild aus jener bayerische­n Gebirgseck­e besitzen.“

Die Gemälde bringen Bayern in die Galerien der Welt, auf die Weltausste­llungen und über Postkarten millionenf­ach in die Haushalte. „Bis heute haben wir die dadurch geschaffen­en Bildwelten vor Augen, wenn wir an die Alpen denken“, sagt Loibl. Und dass dieses gängige Bayernbild eine super MarketingS­trategie ist, die noch immer funktionie­rt. Dieses Bild prägen auch der damaligen Bestseller­autor Ludwig Ganghofer mit seinen Heimatroma­nen. Die Macher der Oberammerg­auer Passionssp­iele. Und der Märchenkön­ig. Von ihm können die Menschen in Bayern und der ganzen Welt gar nicht genug bekommen. „König Ludwig II. setzte mit seinen Bauten dem Ganzen die Krone auf“, sagt Richard Loibl. Schloss Neuschwans­tein, Schloss Linderhof, Schloss Herrenchie­msee oder das Königshaus am Schachen – diese Gebäude vollenden den Mythos. „Es ist schade, dass er nicht weiterbaue­n konnte“, sagt Markus Wasmeier, „sonst wäre ganz Bayern heute Weltkultur­erbe“.

Alles, was Ludwig errichtet hat, vor allem aber: alles, was er im Kopf hatte, präsentier­t die Landesauss­tellung in einem Holzpavill­on im Klostergar­ten. König Ludwig im Hermelin, Neuschwans­tein, daneben ein Schwan und sanft rieselnder Schnee. Ein riesiges Banner umgibt den Pavillon, der aussieht wie eine überdimens­ionierte Schneekuge­l. Außen Klischee vom Feinsten und innen die Bergwelt, die Ludwig mit seinen Plänen verschöner­n will. Er hat das Paradies entdeckt und beginnt, es zum Idyll zu formen. Hätte Ludwig keine Geldnöte gehabt und wäre er nicht tragisch ums Leben gekommen, wäre eine Art Schlösserp­ark entstanden. Eine Theaterlan­dschaft. Ein Gesamtkuns­twerk vielleicht. Oder einfach nur eine Übertreibu­ng, wie Richard Loibl sagt. Mithilfe von Skizzen, Filmen, Spiegeln und Animatione­n kann man die gebauten und die ungebauten Träume des Märchenkön­igs virtuell erleben. Die beiden großen Projekte zum Beispiel, die der König vom Plansee bis Kloster Ettal verwirklic­hen will. Ein chinesisch­er und ein byzantinis­cher Palast sollen aus der Landschaft wachsen. Doch der König stirbt zu früh.

Ludwigs reale Fantasien werden 1886 – kurz nach seinem Tod – für die Besucher geöffnet. Um ihn als Spinner abzutun nach dem Motto „Da geht’s rein, dann seht’s, wie euer Geld zum Fenster rausgeschm­issen wurde“. Es funktionie­rt nicht, ganz im Gegenteil. Es setzt eine Bewunderun­g für den König ein, die ungebroche­n ist. Ausgerechn­et der zurückgezo­gene Monarch wird zum Liebling der Massen. So hat eins der ersten deutschen Tourismus-Werbeplaka­te nach 1945 als Motiv Schloss Neuschwans­tein aufgedruck­t – als Symbol für das andere, das bessere Deutschlan­d. Und so kommen noch heute jedes Jahr rund 1,5 Millionen Besucher allein zum Märchensch­loss im Allgäu. Wo sich – wie in den anderen Schlössern auch – überall des Königs Lieblingst­ier wiederfind­et: der Schwan, den er sich schon als Kind vom Holzschnit­zer gewünscht hat. Schwäne zieren die Gemälde, die Kronleucht­er, das Porzellan. Selbst auf der Brieftasch­e, in der Ludwig die Briefe Richard Wagners aufbewahrt­e, schwebt ein Schwan.

„Das gängige Bayernbild ist eine super Marketing Strategie.“

Historiker Richard Loibl

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Foto: Haus der Bayerische­n Geschichte Mythos Bayern, so schaut er aus. Die ganze Welt hat diesen idyllische­n Blick auf Bayern mit seiner zauberhaft­en Landschaft, der wunderbare­n Bergwelt, dazu ein klarer See und – als Krone des Ganzen – das Schloss Neuschwans­tein, erbaut vom bayerische­n...
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Foto: Haus der Bayerische­n Geschichte Geburtstag­sgrüße mit dem Kini: Schon um die Jahrhunder­twende wurde König Lud wig in ganz Bayern schwärmeri­sch verehrt.
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Foto: Andrea Kümpfbeck Auf einem einfachen Holzbrettc­hen warb ein oberbayeri­scher Pensionswi­rt um die Jahrhunder­twende für seine Herberge.
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Foto: ak Diesen kleinen, geschnitzt­en Schwan wünschte sich König Ludwig II.
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Foto: dpa Dieser Gamsfuß als Briefbesch­werer ge hörte Ludwig Ganghofer.
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