Ein Zwölfjähriger hat ehrgeizige Ziele
Der junge Dillinger Dominik Kerimow ist einer der herausragenden Athleten seiner Altersklasse. Er trainiert bei der SSV Höchstädt. Der Sport fordert viel – doch er gibt Dominik auch viel zurück
Den Blick senken, ein letztes Mal tief durchatmen. Spannung im Körper aufbauen, konzentrieren. Dominik Kerimow steht auf der hölzernen Plattform in „Ben’s Gym“in Augsburg. Es sind schwäbische Meisterschaften im Gewichtheben, er ist der Favorit seiner Altersklasse. Der erste Versuch im Reißen steht ihm bevor – 33 Kilogramm muss er in einer flüssigen Bewegung vom Boden über den Kopf bewegen und dort halten. Der Zwölfjährige wiegt 36 Kilogramm. Die Uhr tickt. Zwei Minuten hat er, ehe sein Versuch ungültig ist. Stille im Publikum, alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Vom kleinsten Muskel im Fuß, über die großen Muskelgruppen in Oberschenkel, Hüfte und Rumpf, bis zu den Armen – Dominiks Körper ist ein Kraftwerk. Fähig, sein eigenes Körpergewicht auf der Langhantel mit zwei Metern pro Sekunde zu beschleunigen und fast im gleichen Moment unter die Hantel zu gleiten. Er stößt sich vom Boden ab, beschleunigt, gleitet, seine Füße knallen Halt suchend auf. Über seinem Kopf die Hantel. Adern treten auf Dominiks Armen und Hals hervor, sein Körper ist ruhig; er beherrscht das Gewicht. Der Kampfrichter sieht das und gibt das Signal zum Absetzen. Er zeigt die weiße Kelle – gültig. Das Publikum und die Mitstreiter applaudieren, Dominiks Körper erzittert einen kurzen Augenblick, als ihn die Anspannung verlässt. Eine knappe Verbeugung, sein Gesicht verliert den verkniffenkonzentrierten Blick. Dominik ist im Wettkampf–Modus.
Einige Tage zuvor. In der Sporthalle der SSV Höchstädt kritzeln Kugelschreiber auf Papier. Es ist früher Nachmittag und Dominik sitzt mit seiner Vereinskameradin Elisabeth Zidek an einem Tisch bei den Hausaufgaben. Der Zwölfjährige geht in die sechste Klasse des Johann-Michael-Sailer-Gymnasiums in Dillingen. Seit diesem Jahr lernt er Latein. „Nicht mein Lieblingsfach, das ist Sport. Meine Noten sind in Latein ganz okay“, erzählt Dominik. In den meisten Fächern sei er aber gut bis sehr gut. Schließlich will er auf jeden Fall Abitur machen, auch wenn das Sportinternat lockt. Früher war er Fußballer, aber das Gewichtheben gefalle ihm besser. „Seit ich das mache, bin ich konzentrierter. Und ehrgeizig.“Dominiks älterer Bruder Markus ist ebenfalls Gewichtheber. Lothar Ebermann hört zu. Der 80-Jährige mit den grauen Haaren und der bulligen Statur kennt die Brüder. Er trainiert sie seit Jahren. „Sogar ein sehr guter“, sagt Ebermann über Bruder Markus. Derzeit habe der er aber Flausen im Kopf, was ihn ein vom Sport abhalte. Während Ebermann erzählt, hilft Dominik Elisabeth bei ihren Hausaufgaben. Sie ist zehn Jahre alt, ihre Eltern sind für den Beruf aus der Slowakei in den Landkreis gezogen. Elisabeth überragt den 144 Zentimeter großen Dominik um einen halben Kopf, die beiden verstehen sich gut. Ihr Sport eint sie – und sie sind die einzigen Athleten, die ihr Trainer Lothar Ebermann betreut. Die Letzten in Höchstädt. „Beide sind große Talente, in all meinen Jahren habe ich vielleicht drei oder vier solche gesehen“, meint Ebermann. Er selbst begann spät mit dem Sport, „um richtig gut zu werden, war’s zu spät“, sagt er im breiten Oberbayerisch.
Dennoch hat es für einen Weltmeistertitel in der Master-Klasse gereicht. Ebermann ist seit Jahrzehnten Trainer, und das ganz ohne Trainerschein. „Für die Elisabeth habe ich extra eine Prüfung abgelegt, dass ich sie betreuen darf“, sagt er. Ebermann ist es wichtig, seine Schützlinge lernen zu sehen. Schule gehe vor. Drei mal in der Woche holt er Dominik von zu Hause ab, ehe es ins Training geht, müssen die Hausaufgaben erledigt sein. Ebermann macht das ehrenamtlich; weil ihm viel am Sport, an Dominik und Elisabeth liegt.
Endlich: „Auf geht’s. Umziehen ihr beiden“, ruft der 80-Jährige. In der Turnhalle steht zuerst Athletik- training auf dem Programm. Sternlauf, Standdreisprung und Kugelschockwurf heißen die Disziplinen des Mehrkampfs im Gewichtheben, die bei Jugend-Wettkämpfen oft gefragt sind. Dominik sprintet die 30 Meter in 5,3 Sekunden und schleudert eine vier Kilo schwere Kugel etwa elf Meter weit. Aus dem Stand katapultiert er seinen Körper in 90 Zentimeter Höhe und über zwei Meter weit. Dem dünnen, blässlichen Jungen liegen die Disziplinen. Im Dreisprung gibt Ebermann sieben Meter als Zielmarke vor. Gummisohlen quietschen über den Hallenboden, wenn die beiden beschleunigen und abstoppen. Mit Schuhgröße 38, das entspricht etwa 24 Zentimetern Fußlänge, federt Dominik seinen Körper vom Boden weg. Kaum schlagen seine Füße auf dem Boden auf, stößt er sich wieder ab. 15 Minuten lang, nur von kurzen Pausen unterbrochen. „Hopp!“, schreit Ebermann, als Dominik deutlich vor der Sieben-MeterMarke aufkommt. Das Training zehrt an seiner Kraft; noch wartet die Langhantel auf ihn. Hängende Schultern lässt Ebermann nicht zu. „Magst jetzt eine Watschn?!“, ruft er lachend. Dominik und Elisabeth wissen Ebermanns Art einzuschätzen. Für sie ist er ein Freund.
Zurück im Wettkampf: Links von der Hebe-Plattform sind in Augsburg Kamera und Laptop aufgebaut. Die Geräte bedient Christian Koherr, Landesjugendleiter des Bayerischen Gewichtheber- und Kraftsportverbands. Die Kamera misst die Leistungsdaten der Athleten. Wie schnell ist die Hantel? Wie ist die Flugkurve? Koherr nimmt jewenig den Versuch auf. So können Sportler und Trainer die Leistung exakt analysieren. Gegen den dröhnenden Metal-Sound aus den Musikboxen der Halle erklärt Koherr, was es mit dem Gewichtheben auf sich hat. „Aktuell haben 41 bayerische Vereine Gewichtheben als Sparte gemeldet.“Der Sport sei eine Schnellkraft-Sportart – Maximalkraft sei ebenso vonnöten. Entscheidend ist die „Belastungsverträglichkeit“des Körpers. Ein Gewichtheber mutet seinem Körper jahrelang hohen Stress zu; das verkraftet nicht jeder. „Im Standsprung kann jeder Gewichtheber, egal welcher Gewichtsklasse, mit Profis aus den Sprungdisziplinen mithalten“, sagt er. Das Gewichtheben fördere die Explosivkraft dermaßen, selbst Weltklassesprinter seien auf den ersten 20 bis 30 Metern nicht schneller als die Elite der Gewichtheber. Verletzungen kommen im Gewichtheben selten vor. Wenn doch, sind sie meist schwerwiegend. Abgerissene Sehnen, gesprengte Gelenke. „Wir führen die Jugendlichen langsam heran. Zuerst kommt Technik, Beweglichkeit, Koordination.“Kraft sei später wichtig – im Profibereich aber absolut entscheidend, sagt der Landesjugendleiter. „Es ist der Drahtseilakt zwischen dem Zug an der Hantel und dem Gleiten darunter“, erzählt Koherr. Ein gutes Hilfsmittel: das richtige Schuhwerk.
Dominik und Elisabeth schlüpfen auch im Training in spezielle Schuhe mit einem erhöhten und harten Fersenabsatz. Kein Wackeln, kein Wegknicken. Nach dem Aufwärmen geht’s ans Eingemachte. Die rauen Metallstangen liegen für die beiden bereit. 15 Kilo wiegen sie bei den Damen, 20 bei den Herren. Darauf lassen sich 0,5 Kilogramm schwere Scheiben stecken. Oder fünf Kilo. Zwanzig Kilo, gar 50. „Meine Heber“, so nennt Ebermann die beiden Talente, „sollen die Technik meistern, nicht ihre Körper verheizen.“Im dunklen Kraftkeller des SSV Höchstädt schwitzen Dominik und Elisabeth. Ihr Trainer hat es sich auf einem mitgebrachten Stuhl gemütlich gemacht. Viel Platz ist hier nicht, der Raum ist vollgestellt mit Hantelbänken, Langhanteln, Kniebeugenständern und Sprungböcken. Alles, was ein Gewichtheber braucht. Jeder Versuch wird von Ebermann kommentiert – mal aufmunternd, mal spöttisch. Das spornt an, bald kann der Trainer nur noch loben.
In Augsburg hadert der 80-Jährige mit Dominik. „Ich weiß nicht, was los war. Als Kampfrichter kann ich ihm im Wettkampf nicht helfen.“Der Zwölfjährige hat im Reißen keinen weiteren Versuch bestanden. Niedergeschlagen steht er in
der Ecke des Aufwärmbereichs, während sich die Damen zwischen Klimmzugstange und Kurzhanteln auf ihren Wettkampf vorbereiten. „Ich bin nicht zufrieden“, sagt der Bub und kämpft mit den Tränen.
Doch es bleibt Dominik keine Zeit, verpatzten Versuchen nachzutrauern. Schon wird er wieder aufgerufen, zwei Minuten bleiben ihm. Die Brust über der Hantel ist durchgedrückt, wie Ebermann ihm das drei Mal die Woche Versuch um Versuch sagt. In der Hocke tastet sich Dominik an den Rillen der Hantel entlang, sucht die perfekte Position für seine Hände. Sie umschließen die Hantel wie ein Haken, der Daumen zwischen Fingern und Handballen. 47 Kilogramm. Bestmarke. Den Bauch tief mit Luft vollgesogen, so schafft er einen Panzer um den Rumpf, schnallt Dominik mit der Hantel in die Höhe. „Ziiiiieh!“rufen Publikum und Sportler.
Da geht er bereits in die Knie, federt das Gewicht der Hantel auf den Schultern ab. Ausatmen, Luft in den Bauchraum pressen, stoßen. Seine Beine drückt es tief in den Boden, die Hantel ruht hoch über dem Kopf. Die Schultern stabilisieren sich, kein Schwenken ist zu beobachten. Das Gewicht knallt zu Boden. Die weiße Kelle. Sieben von zehn Punkten auf der Technik-Skala. Er gewinnt seine Altersklasse. In ein paar Wochen geht es zu den Deutschen Meisterschaften. Dominik wird dabei sein. Seine 36 Kilogramm und das Gewicht seiner Hantel erneut gegen 800 Newton Erdanziehungskraft stemmen. Und sie überwinden.