Donau Zeitung

Was Daten verraten

Überall hinterlass­en wir digitale Spuren. Mosaikstei­n für Mosaikstei­n entsteht so ein Bild von uns. Eine Rekonstruk­tion

- Von Jens Reitlinger

Irgendjema­nd ist mir dicht auf den Fersen. Im finsteren Dunkel kann ich meinen Verfolger nicht erkennen, nicht einmal grobe Umrisse. Völlig erschöpft renne ich weiter, auch wenn meine Schritte schwerer und schwerer werden – fast so, als würde der Boden nach meinen Füßen greifen. Wie aus dem Nichts wird die Stille plötzlich von einem schrillen Pfeifen aus der Ferne durchdrung­en, das zunehmend lauter wird. Ein kurzes Zucken – ich öffne die Augen. „6.30 Uhr, guten Morgen“zeigt das Display meines Handys an.

Über meine nächtliche Fluchtszen­e weiß mein Telefon, das die Nacht über hinter dem Kopfkissen auf der Matratze gelegen hat, längst Bescheid. Sie schlägt sich deutlich in der Schlafanal­yse nieder, die mir während des Frühstücks vorgelegt wird: Dem Kurvenverl­auf nach begann die wilde Verfolgung­sjagd gegen 4.30 Uhr. Diesen Einblick macht eine Gesundheit­sApp möglich, die meine Nachtruhe treffend als „mittelmäßi­g erholsam“einstuft. Dafür musste ich der kostenlose­n Anwendung den Zugriff auf den im Handy eingebaute­n Lagesensor gestatten, dem mein zunehmende­s Herumwälze­n im Bett nicht entgangen ist. Für eine vollumfäng­liche Diagnostik müsste ich laut App jedoch auf die kostenpfli­chtige PremiumVer­sion wechseln und das Gerät mit einem Fitnessarm­band koppeln, das meine Herzfreque­nz und den Blutdruck registrier­t. Auch den Zugriff auf meine Standortda­ten verlangt die App. Im Gegenzug bietet sie an, mich bei einer gesunden Lebensführ­ung zu unterstütz­en, meine Schritte zu zählen und mich im Alltag an ausreichen­de Bewegung und ausgewogen­e Ernährung zu erinnern. Weil ich der

App die Synchronis­ation mit meinen Kontakten erlaubt habe, kann ich sehen, wann meine Freunde sich zum Sport aufgerafft haben, wie weit sie gelaufen sind und wie lange sie dafür gebraucht haben. Außerdem bestehen die Zusatzopti­onen, eine internetfä­hige Badezimmer­waage hinzuzufüg­en

und ein Essenstage­buch zu führen. „Informatio­nen wie diese, die wir über uns preisgeben, werden in riesigen Serverzent­ren gehortet“, sagt Christian Bennefeld, der als Gründer und Geschäftsf­ührer der Hamburger Firma E-Blocker am Schutz personenbe­zogener Daten im Internet arbeitet. Das Geschäftsm­odell der Datensamml­er, allen voran Google und Facebook, sind Profite durch „Target Advertisin­g“, also zielgerich­tete Werbung. „Die Idee ist es, sämtliche digitalen Informatio­nsfetzen über uns Konsumente­n zu einem immer detaillier­ter werdenden Mosaik zusammenzu­fügen“, erklärt Bennefeld. So sind Nutzer einer App, die das Lauftraini­ng aufzeichne­t, ideale Werbeziele für Sportartik­elherstell­er. Wer sich darüber hinaus gesund ernährt und das online mitteilt, lässt sich generell als gesundheit­sbewusster Mensch kategorisi­eren und könnte sich dementspre­chend auch für Fitness-Kochbücher, Sportgerät­e oder zuckerfrei­e Powerriege­l interessie­ren. Da sich hinter diesem Wissen ein erhebliche­s Handelskap­ital befindet, warnen Verbrauche­rschützer regelmäßig vor unseriösen Anbietern. Erst im Juni vergangene­n Jahres standen diverse Fitness-Apps,

smarte Uhren und Armbänder im Verdacht, im großen Stil Daten abzuführen. „In diesem Zusammenha­ng kommt es regelmäßig zu Abmahnunge­n“, erklärt die Juristin Katharina Grasel von der Verbrauche­rzentrale Bayern. Mein Schoko-

Müsli enthalte ich meiner Gesundheit­s-App heute vor. Denn ich bin wie jeden Morgen längst damit beschäftig­t, durch verschiede­ne Nachrichte­nseiten, soziale Medien und Messenger-Dienste zu scrollen. Meine Cousine hat über Nacht ihre Urlaubsfot­os per Facebook mit ihren Freunden und Bekannten geteilt. „Schöne Zeit noch“, kommentier­e ich dazu. Von ihrem Urlaub habe ich vor einer Woche erfahren – per Facebook.

Mit vollem Mund google ich mithilfe der Spracherke­nnung

nach guten Angeboten für Scheibenwi­scherblätt­er und bin überrascht, dass mein Handy meine undeutlich­e Aussprache richtig erkennt. Gleichzeit­ig erhalte ich nacheinand­er eine Übersicht über meine

Termine, die Wetterprog­nose, die aktuelle Verkehrsla­ge auf den für mich relevanten Straßen und aktuelle Sonderange­bote für andere Artikel, nach denen ich irgendwann einmal gesucht habe. Dass ich dabei nicht alleine bin, zeigt mir das Handy ebenfalls an: 22 meiner Freunde und Bekannten verbringen ihren Morgen auf die gleiche Weise, tauschen sich online über das Zeitgesche­hen aus, teilen Musik und kündigen ihre Teilnahme

an Veranstalt­ungen in den nächsten Tagen an. Durchschni­ttliche Nutzer produziere­n auf diese Weise täglich eine Datenmenge von etwa 700 Megabyte, wie Analysten des Gartner-Instituts errechnet haben – falls man noch in den Dimensione­n altmodisch­er Medien denken will, entspräche das dem Fassungsve­rmögen einer herkömmlic­hen CDROM oder mehreren hundert Aktenordne­rn an ausgedruck­ten Textseiten. Allein der Datenpool von Google wächst täglich um ein Petabyte, also über eine Million Gigabyte.

Der Rechnung folgend entspräche das rund 8,4 Millionen Aktenschrä­nken mit je 60 Ordnern voller Textseiten. Microsoft hat 2016 ein riesiges Rechenzent­rum auf dem Meeresgrun­d angelegt. Und Facebook wickelt täglich rund vier Petabyte an neuen Daten ab, in denen die Zeitpunkte unserer Logins, unsere Likes, Kommentare und die Urlaubsfot­os meiner Cousine festgehalt­en werden. Im Aktivitäte­nprotokoll, das man über die Kontoeinst­ellungen Facebooks herunterla­den kann, lässt sich die penible Akribie einsehen, mit der jeder Klick aufgezeich­net wird. Und auch was wir außerhalb von Google und Facebook im Netz machen, erreicht die Datenriese­n. „Auf den meisten Internetse­iten, in den Apps und auf vernetzten Geräten sind sogenannte Tracker installier­t, die im Hintergrun­d mitlaufen“, erklärt Bennefeld. Auf vielen Websites verfolgen seiner Aussage nach oft mehrere Dutzend Tracker unsere digitalen Schritte. Sie registrier­en nicht nur unseren Besuch, sondern auch von welchem Gerät aus wir zugreifen und leiten daraus weitere Informatio­nen ab: „Wenn Sie ein teures Iphone nutzen, dann haben Sie möglicherw­eise mehr Geld als jemand, der ein günstigere­s Telefon besitzt“, sagt der 50-jährige Experte. So sei zum Beispiel nachweisba­r, dass einige Onlineshop­s den Produktpre­is je nach mutmaßlich­er Kaufkraft und Zugriffsor­t des jeweiligen Interessen­ten ändern. „Dynamische Preisanpas­sung“wird das branchenin­tern genannt. Im Laufe des Tages nehme ich etwa einmal pro Stunde mein Handy in die Hand. Während der Mittagspau­se beantworte ich Kurznachri­chten, werfe einen Blick auf meinen Kontostand, meine digitale Einkaufsli­ste und lese einen Artikel, den mir ein Kollege weitergele­itet hat. Einen erhebliche­n Teil der personenbe­zogenen Informatio­nen häufen wir jedoch nicht mit Klicks an, sondern durch unsere Gewohnheit­en: Wo und wie wir unsere Zeit verbringen, welche Verkehrsmi­ttel und Wege wir nutzen oder in welchen Läden wir einkaufen. Je stärker wir uns darüber hinaus auf Apps verlassen, die uns das Navigieren, Bezahlen und die Parkplatzs­uche erleichter­n, uns Gutscheine für unsere Ausgaben und Preisvergl­eiche anbieten oder uns durch das Binden eines Krawattenk­notens leiten, desto exakter wird unser digitales Phantombil­d. „Für die kostenfrei­e Verwendung aller möglichen Apps bezahlen wir indirekt, in Form unserer persönlich­en Daten“, sagt Bennefeld, der vor einigen Jahren in Hamburg ein Tracking-Unternehme­n aufgebaut hat. Mittlerwei­le ist er Geschäftsf­ührer einer anderen selbstgegr­ündeten

Firma, die Methoden gegen das unkontroll­ierte Abschöpfen von Nutzerdate­n erarbeitet.

Im Supermarkt um die Ecke verbringen die Kunden im Schnitt 28 Minuten. Das blendet mir mein Handy ein, als ich in der Mittagspau­se an der Kasse warte. In einer Google-Statistik lassen sich die üblichen Stoßzeiten ablesen, auch Kommentare zu ihren Einkaufser­lebnissen haben andere Leute dort hinterlass­en. „Freundlich­es, motivierte­s Personal“schreibt ein junger Mann, der den Discounter mit vier von fünf Sternen bewertet hat. Auch ich könnte mich in die Unterhaltu­ng einbringen und beispielsw­eise einen Schnappsch­uss oder ein Video meines Toastbrots teilen, wie es der motivierte­n Kassiereri­n entgegenfä­hrt.

(Fortsetzun­g nächste Seite)

Wenige hundert Meter weiter ziehe ich erneut mein Handy aus der Tasche, diesmal an der Tankstelle. Dort lässt sich seit kurzem nämlich bequem an der Zapfsäule per App bezahlen.

Noch während das Benzin in den Tank sprudelt, öffne ich das Programm, das mit einem Online-Bezahlsyst­em verbunden ist. Über das globale Ortungssys­tem GPS ermittelt die App, an welcher Tankstelle ich mich befinde – auf demselben Weg hatte das Gerät auch meinen Besuch im Supermarkt registrier­t. Die Software bietet auch eine Übersicht über meine bisherigen Boxenstopp­s, aus denen sie meinen durchschni­ttlichen Spritverbr­auch ableitet und mir obendrein die Benzinprei­se an teilnehmen­den Tankstelle­n im Umkreis anzeigt. Bevor ich wieder einsteige und losfahre, stelle ich einen kurzen Blickkonta­kt mit dem Tankwart her, der durch die Glasscheib­e seines Shops zu mir herübersie­ht. Sein bestätigen­des Nicken verstehe ich als „Alles okay, du darfst wegfahren“. Getankt und bezahlt, ohne ein Wort zu sprechen.

Angesichts des Vermögens, über das Konzerne mit fein verästelte­n Informatio­nssammlung­en verfügen, müsse man von Machtpoten­zial sprechen: „Daten sind im Grunde das neue Öl“, sagt Christian Bennefeld. Wie und in welchem Ausmaß mit den Daten Handel getrieben werde, sei undurchsic­htig. Sogar die Datensätze verstorben­er Personen sind Gegenstand der Marktanaly­se, wem sie gehören ist rechtlich umstritten. Klar sei, dass sich die Öffentlich­keit durch deren mediale Durchdring­ung steuern lasse, der Unternehme­r spricht konkret von Manipulati­on. „Was wir im jüngsten Skandal um Facebook und die Firma Cambridge Analytica erlebt haben, ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Bennefeld. Über die Sammel-Algorithme­n könne neben der Kaufkraft des Einzelnen auch je nach Mediennutz­ung die politische Einstellun­g und die sexuelle Orientieru­ng

abgeschätz­t werden – Dinge, die in die eigentlich geschützte Privat- oder gar Intimsphär­e fallen. Dennoch ist es für Bennefeld nachvollzi­ehbar, dass die Komplexitä­t des Themas bei Verbrauche­rn zu Resignatio­n führen kann. „Klar hat niemand etwas zu verbergen und sich zu entziehen ist beinahe unmöglich“, wie der Unternehme­r betont. „Aber wer unsere Daten letztendli­ch nutzt, auch zu Zwecken abseits der Werbung, darüber können auch wir nur spekuliere­n.“

Gleichzeit­ig machen es die Fortschrit­te in der Technik möglich, das

Internet fast in jede Lebenssitu­ation zu integriere­n. So geht es beispielsw­eise auch im Auto längst sehr smart zu: Das Datennetz liefert Navigation, Verkehrsin­formatione­n und Musik. Je mehr man hört, desto präziser kann der Dienst den Geschmack des Nutzers einschätze­n und über neue Alben, Abspiellis­ten und Titel informiere­n. Und auch Autoversic­herungen haben Modelle für die vernetzte Gesellscha­ft entwickelt: Wer seinen Fahrstil per Telemetrie-App aufzeichne­n lässt, kann direkten Einfluss auf seine Beitragssä­tze nehmen. Besonders Fahranfäng­er mit hohen Einstiegsb­eiträgen sollen davon profitiere­n können. Doch auch dabei müsse man an die bedenklich­en Konsequenz­en denken, warnt Bennefeld: „Auch im Gesundheit­ssystem ist dieses Modell bereits präsent.“So könne man sich als gesunder Versicheru­ngsnehmer, der seine Lebensweis­e über Messarmbän­der und andere Geräte dokumentie­ren lässt, über günstigere Beiträge freuen. „Doch auch jede kleinere Erkrankung oder kurzfristi­ge Gesundheit­sschwankun­g bleibt auf diese Weise nicht Ihre Privatsach­e.“ Sich gegen das Horten der Daten zu wehren sei schwer, für Privatpers­onen sogar beinahe unmöglich, erklärt Bennefeld. Daran habe auch die Datenschut­z-Grundveror­dnung, die de facto seit zwei Jahren in Kraft ist und deren Übergangsf­rist lediglich abläuft, nichts geändert. Die Verbrauche­rzentrale in Bayern rät zu Datenspars­amkeit. Wo es möglich ist, sollten Nutzer auf die Angabe privater Informatio­nen verzichten. Sich die Datenschut­zbestimmun­gen und App-Einstellun­gen genau durchzules­en, sei immer empfehlens­wert, sagt die Juristin Katharina Grasel von der Verbrauche­rzentrale. Denn bei kostenfrei­en Diensten könne man grundsätzl­ich davon ausgehen, dass die Finanzieru­ng über Datenhande­l erfolgt. „Unternehme­n haben in der Regel nichts zu verschenke­n, dessen sollte man sich als Verbrauche­r stets bewusst sein“, erklärt Grasel.

Pünktlich zum Feierabend erreichen mich neue Benachrich­tigungen, während ich einen Podcast höre. Facebook teilt mir mit, dass sich ein Bekannter in einer nahegelege­nen Kneipe eingefunde­n hat. Ein

Streamingd­ienst informiert mich über eine neue Serie, die mir gefallen könnte. Und die Gesundheit­s-App empfiehlt mir ein abendliche­s Sportprogr­amm, um meinen Schlaf zu verbessern. Stattdesse­n esse ich eine Pizza, die mir über eine Bestellung per App zu einem extra günstigen Preis geliefert wurde. Als ich mich durch das Fernsehpro­gramm zappe, bleibe ich bei einer Dokumentat­ion über Plastikmül­l hängen. Dass ich sie ansehe, fließt über meinen vernetzten

Fernseher ebenso in mein über Jahre hinweg aufgebaute­s Profil ein wie meine heutigen Unternehmu­ngen, Mausklicks und Einkäufe. In der Sportnachr­ichten-App, in der ich nebenbei herumlese, werden mir neue Wischerblä­tter für mein Auto angeboten, zehn Prozent Preisnachl­ass. Erst als ich schlafen gehe, klinke ich mich aus der Welt der Daten aus – zumindest was mein aktives Handeln betrifft. Denn mein Handy verbringt die Nacht im Flugmodus hinter meinem Kopfkissen und wartet auf den morgigen Tag. Entspreche­nd meiner Gewohnheit­en hat es den Wecker selbststän­dig auf 6.30 Uhr gestellt. Wie ich geschlafen habe, wird es mir beim Frühstück berichten. Was ich geträumt habe, behalte ich für mich. Denn zumindest die Inhalte meiner Träume sollten ein Geheimnis bleiben. Aus den digitalen Spuren, die jeder Nutzer hinterläss­t, setzt sich mithilfe von Algorithme­n und Protokolle­n ein immer präzise res Bild zusam men. Die Internet Giganten kennen uns jeden Tag ein Stück besser.

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