Donau Zeitung

Die rollende Bücherei

Mit „Unterwegs nach Essaouira“bestätigt der Gundelfing­er Tiny Stricker seinen Ruf als Pop-Art-Autor

- VON ERICH PAWLU Süddeutsch­en Zeitung

Seit 50 Jahren rollt der Bücherbus durch den Landkreis Dillingen. Das Konzept dahinter gilt als Erfolgsmod­ell. Warum, das lesen Sie auf

Dillingen „Eines Tages, nachdem er eine kleine Summe angespart hatte, schrieb er auf einen Zettel, dass er auf Reisen gehe, setzte sich in den Orient-Express und war verschwund­en.“Heinrich Stricker aus Gundelfing­en hat mit seinem neuen Buch „Unterwegs nach Essaouira“die Aktivitäte­n, die Träume und die Enttäuschu­ngen der Hippies fasziniere­nd dokumentie­rt.

Seine Asienreise­n hatten Stricker den Vornamen „Tiny“eingetrage­n, und als Tiny Stricker wurde er zum Autor, der in Büchern wie „Trip Generation“, „Soultime“und „Ein Mercedes für Täbris“die Mentalität der 68er-Generation amüsant und kenntnisre­ich analysiert. Die marokkanis­che Stadt Essaouira wird für ihn und seine Freunde im neuen Buch zu einem Traumziel jenseits aller bürgerlich­en Bindungen. Aber es geht weniger um den verklärten geografisc­hen Ort. Erstrebt wird eine „leichte Lebensweis­e“, die sich mit einem romanhafte­n „Verscholle­n-Sein“verbindet, von dem man sich „eine Periode nie gekannter Freiheit, ein Neugeboren-Sein“verspricht.

Die Handlung spielt an verschiede­nen Orten, die ausnahmslo­s typisch für Zentren oder Idyllen der Hippie-Bewegung waren. Die Leopoldstr­aße und eine als „77 Sunset Strip“bezeichnet­e Unterkunft in München, ein ländliches Wohnidyll am Ammersee und die abenteuerl­ichen Schlupfwin­kel in Essaouira sind Spiegelung­en des Milieus von Jugendlich­en, die sich zumeist aus bürgerlich­en Verhältnis­sen gelöst hatten, um den Reiz der Bedürfnisl­osigkeit zu genießen.

Im Mittelpunk­t der Erzählweis­e steht eine Gestalt namens H., in der man den Autor Heinrich Stricker vermuten darf. Die Mitglieder der verschiede­nen „Gruppen“wechseln ständig, weil jede langfristi­ge Ortsgebund­enheit dem Traum von ei- freien Leben widerspric­ht. Junge Frauen, denen fast ausnahmslo­s verklärend­e Adjektive zugeordnet werden, schließen sich an und verschwind­en wieder. Erotische Verbindung­en ergeben sich zwanglos. „Mit der Ankunft des schönen und schüchtern­en Mädchens (wobei ihre Schüchtern­heit sie zusätzlich verzaubert­e) war für H. der Traumberei­ch noch stärker geworden.“Aber Hippie-Träume vertragen keine Dauer. Von einem kurzfristi­g eingebunde­nen Hippie-Mädchen heißt es: „…die jäh entdeckte Zu- neigung behinderte sie auch, da sie eine übergroße Erwartung erzeugte.“Gelegentli­ch entwickelt die Gruppe trotz aller Ablehnung von Arbeit und Stress erstaunlic­he Kreativitä­t.

Es wird musiziert und komponiert. Die Produktion­en „Road to Laramie“und „Aluminium Wind“erscheinen. Die Rhythmen gleichen einem „psychodeli­schen Regen“.

Der von deutscher Romantik inspiriert­e Traum, dass permanente Wanderung die Seele aus allen Fesseln löse, geht in Strickers Buch allerdings über in die Klage von der zeitlichen Endlichkei­t der „On-theRoad“-Kultur: „Obwohl also die Gruppe in dieser Zeit eine neue, ungeheure Dynamik entwickelt­e, künnem

In der Hauptfigur kann man den Autor vermuten

digte sich gleichzeit­ig [...] bereits ihre Auflösung an.“

Tiny Stricker ist mit „Unterwegs nach Essaouira“abermals ein literarisc­her Nachruf auf ein Kapitel bundesrepu­blikanisch­er Kulturgesc­hichte gelungen. Probleme, die Ungebunden­heit, Antibürger­lichkeit und „Highway“-Rausch zwangsläuf­ig in den Bereichen Hygiene, Reisefinan­zierung und zurückgela­ssene Eltern ergeben, werden zwar ausgeblend­et. Aber beim Rückblick auf seine eigene HippieErfa­hrung deutet Tiny Stricker immerhin an, dass die Sehnsucht nach einer „völlig mittellose­n Lebensweis­e“letztlich ein parasitäre­s Verhalten war.

Heinrich Stricker, Jahrgang 1949, bezeichnet­e sich in einem Gespräch mit der als „Hippie für drei Sommer“. Im Gegensatz zu anderen Langzeit-Hippies fand er bald wieder zurück ins bürgerlich­e Lager, studierte in München Anglistik/Amerikanis­tik und Germanisti­k, ging für zwei Jahre als Lektor nach England, war anschließe­nd Lehrer in Bayern und ab 1980 übernahm er Aufgaben im Goethe-Institut.

Als er vor drei Jahren in den Ruhestand verabschie­det wurde, erschien er keineswegs in orientalis­cher Gewandung, sondern in Anzug mit Krawatte.

O„Unterwegs nach Essaouira“, 110 Seiten, broschiert, Verlag p.maschinery

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DIENSTAG, 29. MAI 2018
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Foto: Stricker Tiny Stricker (links) und eine seiner Hippie Gruppen. Das Bild befindet sich auf der Rückseite seines Buches „Unterwegs nach Essaouira“.

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