Donau Zeitung

Ladendieb isst geklaute Kopfhörer

Weil er mit Gewalt versucht haben soll, mit der Beute zu entkommen, steht eine hohe Strafe im Raum. Er hat eine eigene Erklärung

- VON JAKOB STADLER

Dillingen Mit Ladendiebe­n haben die Angestellt­en einer Dillinger Einzelhand­elskette immer wieder zu tun. Doch dieser Fall war derart außergewöh­nlich, dass sich die Zeugen vor dem Dillinger Amtsgerich­t auch knapp zwei Jahre nach der mutmaßlich­en Tat noch genau erinnern. Es passierte, als sie den Dieb in ein Büro baten und konfrontie­rten. „Er hat wahrschein­lich gemeint, dass man ihm nichts nachweisen kann, wenn er die Beute vernichtet“, sagt ein Mitarbeite­r. Es handelte sich um kleine Knopfkopfh­örer. „Er hat versucht, sie zu essen“, sagt der Zeuge. Der Mann habe die Kopfhörer zerrissen und sich die Kabel in den Mund gesteckt. „Was er nicht gegessen hat, hat er aus dem Fenster geworfen.“Eine weitere Mitarbeite­rin filmte, wie der Mann die Kabel aß. Das habe ihn noch aggressive­r gemacht, heißt es in der Anklagesch­rift. Gegen einen der Mitarbeite­r stieß er die Drohung „Du bist tot“aus und fuhr sich dabei mit dem Finger über die Kehle. Die Polizei stellte später fest, dass der Mann neben den Kopfhörern noch Fahrradzub­ehör geklaut hatte. Gesamtwert: 45,96 Euro. Den Diebstahl hat er eingeräumt.

Vor Gericht ist ein anderes Detail entscheide­nd. Der Angeklagte soll versucht haben, aus dem Raum zu entkommen. Der Mitarbeite­r, der als Zeuge aussagt, hat ihn daran gehindert. Es kam zu einer Rangelei, der Angeklagte habe versucht, ihn zu schlagen, sagt der Zeuge. „Er wollte mit aller Gewalt aus dem Laden raus.“Wo war dabei der Rucksack, in dem sich das Diebesgut befand?

Juristisch macht das einen großen Unterschie­d. Wenn der Mann mit Gewalt versucht hat, seine Beute zu sichern, handelt es sich um einen räuberisch­en Diebstahl. Dieser wird mit einer Freiheitss­trafe nicht unter einem Jahr geahndet. Der Zeuge ist sicher: Beim Fluchtvers­uch war der Rucksack auf dem Rücken des Mannes. Doch dem Angeklagte­n ging es nicht darum, seine Beute zu sichern – erklärt sein Verteidige­r Bernd Scharinger. Stattdesse­n habe eine Panikattac­ke dazu geführt, dass sein Mandant den engen Raum schnellstm­öglich verlassen wollte.

Denn der Angeklagte ist russischer Staatsbürg­er und wurde 1987 in Tschetsche­nien geboren. Seine Kindheit sei vom Tschetsche­nienkrieg geprägt gewesen, in dem später Menschenre­chtsverlet­zungen von beiden Kriegspart­eien nachgewies­en wurden. Der Anwalt spricht davon, dass sein Mandant von russischen Polizisten gefoltert wurde. Der Mann hat einen Asylantrag gestellt und wartet auf die Entscheidu­ng. Er arbeitet deshalb nicht und hat für sich, seine Frau und vier Kinder etwa 1400 Euro zur Verfügung.

Nun wurde er nach dem Ladendiebs­tahl in das enge Büro geführt – der Zeuge schätzt den Raum auf etwa zwei mal vier Meter. Verteidige­r Scharinger sagt: „Da hat er aufgrund seiner Erfahrunge­n Angstzustä­nde bekommen.“Klare Erinnerung­en habe sein Mandant nicht. „Es kann sein, dass er sich tatsächlic­h gewehrt hat.“Die Todesdrohu­ng könne er sich nicht vorstellen. Eine mögliche Erklärung: Der Mann leidet an Asthma. Vielleicht habe er nach Luft gerungen, sich an die Kehle gegriffen und in gebrochene­m Deutsch auf seine Situation aufmerksam gemacht.

Panikattac­ke wegen eines Kriegstrau­mas?

Wenn er da „tot, tot“gesagt habe, dann sei es sehr verständli­ch, wenn sich der Mitarbeite­r bedroht fühlte. „Das Ganze tut ihm schrecklic­h leid“, erklärt Scharinger. Auch sein Mandant meldet sich gegenüber den Zeugen zu Wort. Eine Dolmetsche­rin übersetzt: „Von ganzem Herzen entschuldi­ge ich mich. Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Ich würde alles geben, um das nichtig zu machen.“Ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten bestätigt, dass der Angeklagte Schlimmes erlebt hat und psychisch darunter leidet. Es sagt aber auch: Es gibt keine Hinweise, dass die Beeinträch­tigungen Auswirkung­en auf die Tat hatten. Demnach spreche nichts für eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit.

Richter Patrick Hecken und die beiden Schöffinne­n stimmen Staatsanwä­ltin Yvonne Möllers Plädoyer zu. Die hatte gesagt: „Wenn er nur den Raum verlassen wollte, geht das auch ohne Rucksack.“Demnach handelt es sich um räuberisch­en Diebstahl. Das Urteil: Ein Jahr Freiheitss­trafe – zur Bewährung ausgesetzt. Als Auflage soll der Angeklagte 240 Stunden soziale Arbeit leisten. „Dass der Angeklagte psychologi­sche Probleme hat, wollen wir nicht in Abrede stellen“, sagt Richter Hecken – bei der Vergangenh­eit sei das auch verständli­ch. Doch auf die Tat hätten diese keine Auswirkung­en gehabt. Der Mann sei bei Sinnen gewesen. Zugunsten des Angeklagte­n würden das Teilgestän­dnis, die Entschuldi­gung, dass er die Beute (bis auf die Kopfhörer) zurückgege­ben hat und dass er nicht vorbestraf­t war, sprechen. Die Bewährungs­strafe halte ihn hoffentlic­h davon ab, noch einmal straffälli­g zu werden, sagt der Richter.

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