Ladendieb isst geklaute Kopfhörer
Weil er mit Gewalt versucht haben soll, mit der Beute zu entkommen, steht eine hohe Strafe im Raum. Er hat eine eigene Erklärung
Dillingen Mit Ladendieben haben die Angestellten einer Dillinger Einzelhandelskette immer wieder zu tun. Doch dieser Fall war derart außergewöhnlich, dass sich die Zeugen vor dem Dillinger Amtsgericht auch knapp zwei Jahre nach der mutmaßlichen Tat noch genau erinnern. Es passierte, als sie den Dieb in ein Büro baten und konfrontierten. „Er hat wahrscheinlich gemeint, dass man ihm nichts nachweisen kann, wenn er die Beute vernichtet“, sagt ein Mitarbeiter. Es handelte sich um kleine Knopfkopfhörer. „Er hat versucht, sie zu essen“, sagt der Zeuge. Der Mann habe die Kopfhörer zerrissen und sich die Kabel in den Mund gesteckt. „Was er nicht gegessen hat, hat er aus dem Fenster geworfen.“Eine weitere Mitarbeiterin filmte, wie der Mann die Kabel aß. Das habe ihn noch aggressiver gemacht, heißt es in der Anklageschrift. Gegen einen der Mitarbeiter stieß er die Drohung „Du bist tot“aus und fuhr sich dabei mit dem Finger über die Kehle. Die Polizei stellte später fest, dass der Mann neben den Kopfhörern noch Fahrradzubehör geklaut hatte. Gesamtwert: 45,96 Euro. Den Diebstahl hat er eingeräumt.
Vor Gericht ist ein anderes Detail entscheidend. Der Angeklagte soll versucht haben, aus dem Raum zu entkommen. Der Mitarbeiter, der als Zeuge aussagt, hat ihn daran gehindert. Es kam zu einer Rangelei, der Angeklagte habe versucht, ihn zu schlagen, sagt der Zeuge. „Er wollte mit aller Gewalt aus dem Laden raus.“Wo war dabei der Rucksack, in dem sich das Diebesgut befand?
Juristisch macht das einen großen Unterschied. Wenn der Mann mit Gewalt versucht hat, seine Beute zu sichern, handelt es sich um einen räuberischen Diebstahl. Dieser wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr geahndet. Der Zeuge ist sicher: Beim Fluchtversuch war der Rucksack auf dem Rücken des Mannes. Doch dem Angeklagten ging es nicht darum, seine Beute zu sichern – erklärt sein Verteidiger Bernd Scharinger. Stattdessen habe eine Panikattacke dazu geführt, dass sein Mandant den engen Raum schnellstmöglich verlassen wollte.
Denn der Angeklagte ist russischer Staatsbürger und wurde 1987 in Tschetschenien geboren. Seine Kindheit sei vom Tschetschenienkrieg geprägt gewesen, in dem später Menschenrechtsverletzungen von beiden Kriegsparteien nachgewiesen wurden. Der Anwalt spricht davon, dass sein Mandant von russischen Polizisten gefoltert wurde. Der Mann hat einen Asylantrag gestellt und wartet auf die Entscheidung. Er arbeitet deshalb nicht und hat für sich, seine Frau und vier Kinder etwa 1400 Euro zur Verfügung.
Nun wurde er nach dem Ladendiebstahl in das enge Büro geführt – der Zeuge schätzt den Raum auf etwa zwei mal vier Meter. Verteidiger Scharinger sagt: „Da hat er aufgrund seiner Erfahrungen Angstzustände bekommen.“Klare Erinnerungen habe sein Mandant nicht. „Es kann sein, dass er sich tatsächlich gewehrt hat.“Die Todesdrohung könne er sich nicht vorstellen. Eine mögliche Erklärung: Der Mann leidet an Asthma. Vielleicht habe er nach Luft gerungen, sich an die Kehle gegriffen und in gebrochenem Deutsch auf seine Situation aufmerksam gemacht.
Panikattacke wegen eines Kriegstraumas?
Wenn er da „tot, tot“gesagt habe, dann sei es sehr verständlich, wenn sich der Mitarbeiter bedroht fühlte. „Das Ganze tut ihm schrecklich leid“, erklärt Scharinger. Auch sein Mandant meldet sich gegenüber den Zeugen zu Wort. Eine Dolmetscherin übersetzt: „Von ganzem Herzen entschuldige ich mich. Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Ich würde alles geben, um das nichtig zu machen.“Ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten bestätigt, dass der Angeklagte Schlimmes erlebt hat und psychisch darunter leidet. Es sagt aber auch: Es gibt keine Hinweise, dass die Beeinträchtigungen Auswirkungen auf die Tat hatten. Demnach spreche nichts für eine verminderte Schuldfähigkeit.
Richter Patrick Hecken und die beiden Schöffinnen stimmen Staatsanwältin Yvonne Möllers Plädoyer zu. Die hatte gesagt: „Wenn er nur den Raum verlassen wollte, geht das auch ohne Rucksack.“Demnach handelt es sich um räuberischen Diebstahl. Das Urteil: Ein Jahr Freiheitsstrafe – zur Bewährung ausgesetzt. Als Auflage soll der Angeklagte 240 Stunden soziale Arbeit leisten. „Dass der Angeklagte psychologische Probleme hat, wollen wir nicht in Abrede stellen“, sagt Richter Hecken – bei der Vergangenheit sei das auch verständlich. Doch auf die Tat hätten diese keine Auswirkungen gehabt. Der Mann sei bei Sinnen gewesen. Zugunsten des Angeklagten würden das Teilgeständnis, die Entschuldigung, dass er die Beute (bis auf die Kopfhörer) zurückgegeben hat und dass er nicht vorbestraft war, sprechen. Die Bewährungsstrafe halte ihn hoffentlich davon ab, noch einmal straffällig zu werden, sagt der Richter.