Donau Zeitung

Ein Milliardär, ein behinderte­r Sohn, eine Entführung

Juni 2015: Ein Unbekannte­r kidnappt den Sohn von „Schraubenk­önig“Reinhold Würth. Die Übergabe des Lösegelds scheitert, die Polizei findet das Opfer fast unversehrt an einen Baum gekettet. Drei Jahre später fasst sie einen Verdächtig­en. Aber ist er auch de

- VON MANFRED SCHWEIDLER ZDF-Fahndungss­endung

Gießen Für ein geschultes Ohr können wenige Sätze viel über den Sprechende­n verraten – beispielsw­eise über den Entführer von Markus, dem behinderte­n Sohn des Milliardär­s Reinhold Würth. Dies muss man vorausschi­cken, will man die Bedeutung des am Dienstag gestartete­n Prozesses gegen den mutmaßlich­en Kidnapper Nezdad A. am Landgerich­t Gießen verstehen.

Wer im Internet den Namen „Würth“kombiniert mit den Begriffen „Entführer“und „Stimme“sucht, findet einen Mitschnitt des Erpresser-Anrufs. Die Polizei hat damit nach dem Unbekannte­n gesucht, der im Juni 2015 Markus Würth entführt und später in einem Wald bei Würzburg zurückgela­ssen hatte. Die Ermittler hofften, jemand werde die Stimme erkennen und sie zu dem Täter führen.

Ist das der Mann? Ein wenig zuckt der Angeklagte vor der Wand von Kameras zurück, die sich an diesem Morgen vor ihm aufbaut. Drei dutzend Journalist­en sind zum Prozessauf­takt gekommen. Nezdad A. drückt sich neben seinen Verteidige­r auf den Stuhl und hört ohne erkennbare Regung zu, wie die Staatsanwa­ltschaft die Anklage vorträgt. Nach 20 Minuten ist schon Schluss. Ob sich der Angeklagte im Laufe des Verfahrens äußern wird, lässt sein Verteidige­r offen.

Die Stimme also. Man muss nur den Sätzen der Lösegeld-Forderung lauschen, um auch als Laie eine Vorstellun­g von dem Erpresser zu bekommen. Das höfliche „bitte“– ungewöhnli­ch für einen brutalen Kidnapper. Das holpernde, hessisch gefärbte Deutsch mit unnatürlic­h gedehnten Selbstlaut­en, wie bei einem Gastarbeit­er aus Südosteuro­pa: „Farren Sie hoitä Naachd um swai Urr…“Das mühsame Ringen um „der, die, das“und die Suche nach dem richtigen Begriff: „Schaltän Sie die Blinkär immär an, immär an“, und „Beobachtän Sie bittä die Autobahnsa­itä, wenn Sie, äh äh, die Lischdsign­aal sähän, ja? Dann sofort aanhaltän. Isch wärdä bei der Autobahn wartän, an räschdä Saitä.“

Schon jetzt ist klar: Der Prozess wird Justizgesc­hichte schreiben. Denn die mitgeschni­ttenen Sätze mit der Forderung nach drei Millionen Euro Lösegeld sind das wesentlich­e Indiz, das die Ermittler gegen den Angeklagte­n in der Hand haben. Also werden Spezialist­en vor Gericht zu Wort kommen, die man sonst kaum als Gutachter in Gerichtssä­len erlebt: Sprachwiss­enschaftle­r der Universitä­t Marburg, die Satzbau, Wortwahl und Sprachmelo­die analysiere­n, um Rückschlüs­se auf die Identität des Gesuchten zu ziehen. Ob sie eindeutig auf den Angeklagte­n zurückschl­ießen können, muss sich noch zeigen.

Natürlich ist der Fall auch deshalb so spektakulä­r, weil der Vater des Opfers, „Schraubenk­önig“ Reinhold Würth, 83, aus dem baden-württember­gischen Künzelsau, zu den reichsten Deutschen zählt. Der eigenwilli­ge Familienpa­triarch schuf aus dem Schrauben-Handelsunt­ernehmen Würth den internatio­nalen Marktführe­r in der Befestigun­gsund Montagetec­hnik mit heute rund 75 000 Mitarbeite­rn. Seine Unternehme­nsgruppe setzte 2017 knapp 13 Milliarden Euro um. Würth ist außerdem ein bekannter Sportspons­or und Kunstmäzen.

Der oder die Entführer waren gut vorbereite­t. Damals im Juni 2015 kidnappten sie ihr 50-jähriges Opfer unbemerkt in der Mittagspau­se aus einer Betreuungs­einrichtun­g. Stunden später rief eine Stimme als angebliche­r „Dr. Hassan vom Krankenhau­s Gießen“in Künzelsau im edlen Hotel „Anne-Sophie“an, das zum Würth-Imperium gehört. Markus sei verletzt, sagte der Anrufer und bat um die Privatnumm­er seiner Mutter Sophie Würth. Ihr präsentier­te „Dr. Hassan“dann die Lösegeldfo­rderung.

Der Mitschnitt führte die Ermittler nach etwa 1000 Tagen Fahndung tatsächlic­h zu Nezdad A., einem 48-jährigen Handwerker und Vater zweier Kinder. Der gebürtige Serbe lebte unauffälli­g in einem Hochhaus in Offenbach und war der Polizei bis dahin nicht aufgefalle­n. Dass er geschnappt wurde, ist einer Zeugin zu verdanken, die – eher aus Langeweile – im Januar 2018 eine Hotline der Polizei wählte, auf der die Stimme des Kidnappers zu hören war. Prompt erkannte sie den Mann wieder, der bei ihr renoviert hatte, und meldete sich bei der Soko „Hof“.

Noch mehr ist der Fahndungse­rfolg aber den Sprachwiss­enschaftle­rn der Uni Marburg zu verdanken. Die analysiert­en mit Spezialist­en des Bundeskrim­inalamtes nach dem Ende der Entführung jeden Wortfetzen, um der Polizei Hinweise zu liefern, was für einen Täter sie suchen musste: 40 bis 52 Jahre alt, mit hoher Wahrschein­lichkeit aus dem Kosovo, Montenegro oder Mazedonien, vor 2001 nach Deutschlan­d gekommen, im Großraum Frankfurt lebend. Ein Profil, das erstaunlic­h genau auf Nezdad A. passt.

Darauf hatten die Fahnder gehofft, die kaum mehr vorweisen konnten als die Stimme des Kidnappers. Immer wieder wandten sie sich damit an die Öffentlich­keit, zweimal über die „Aktenzeich­en XY … ungelöst“. Allein da hörten jeweils fünf Millionen Menschen die Stimme. Über 6000 wählten bewusst die Nummer der Hotline, um zu hören, wie der Kidnapper seine Anweisunge­n zur Geldüberga­be bei Würzburg gab.

Als die Fahnder der Soko endlich einen Verdächtig­en hatten und wochenlang dessen Wohnung im fünften Stock eines Hochhauses abhörten, verglichen die Sprachwiss­enschaftle­r seine Stimme mit dem Erpressera­nruf. Dann kamen sie laut Thomas Hauburger, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft, „mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit“zur Erkenntnis: Es handelt sich um den Erpresser.

Nun steht der Mann also vor Ge- richt. Er soll bislang zwar wortreiche Erklärunge­n geliefert haben, aber nichts Konkretes zur Tat. Die Staatsanwa­ltschaft glaubt, er habe Markus Würth „gemeinscha­ftlich mit unbekannte­n Mittätern“entführt, wie es in der Anklagesch­rift heißt. Aber viele Fragen sind offen.

Warum ließ man das Opfer frei, nachdem die Geldüberga­be bei Würzburg gescheiter­t war? Wer kettete Markus Würth nachts bei Kist im Landkreis Würzburg an einen Baum, während der Erpresser als angebliche­r „Dr. Hassan“die Mutter des Entführers anrief – aber von einem Handy aus, das in einer Funkzelle in Frankfurt eingebucht war? Überhaupt: Welche Beziehung

hatte A. ins 120 Kilometer entfernte Unterfrank­en? An der Autobahn A3 bei Würzburg sollte das Lösegeld übergeben werden.

Zuvor, am Tag der Entführung, hatte der Kidnapper in einem Supermarkt neben der Autobahn Guthabenka­rten gekauft, mit denen er sein Prepaid-Handy auflud. Und dort in der Nähe, in einem Waldstück, kettete er später auch sein Opfer an einen Baum, ließ ihm sogar eine Flasche Wasser da. Dann rief er die Angehörige­n an: „Schraibän Sie auf folgendes Geokoordin­aten – das ist sähr wichtich, hören Sie gut zu: dort finden Sie Markus, äs gäht um Läbän und Tod.“

Das Opfer wurde tatsächlic­h dort gefunden, unterkühlt, aber sonst unversehrt. Oft töten Entführer ihre Opfer aus Angst, diese könnten sie später beschreibe­n. Aber Markus Würth ist wegen eines Impffehler­s seit frühester Kindheit behindert. Er kann nichts zur Aufklärung des Falles beitragen. „Hätte er das gekonnt, wäre er heute nicht mehr am Leben“, ist Daniel Muth, Leiter der Sonderkomm­ission, überzeugt. Und auch Reinhold Würth sagte in einem seiner wenigen Interviews zu dem Fall: „Hätte er verraten können, wie der Täter aussah, hätte der ihn wahrschein­lich umgebracht.“

Wie kam der Täter an sein Opfer? Dass Markus Würth in Schlitz in einer anthroposo­phischen Einrichtun­g wohnte, war kein Geheimnis. Er lebte dort seit 30 Jahren. Der Tatverdäch­tige habe „finanziell­e Nöte“und sei gern dem Glücksspie­l nachgegang­en, sagt Soko-Leiter Muth. „Vielleicht hat er aus Geldnot die Einfachhei­t der Entführung eines behinderte­n Menschen gesehen und es gab eine sehr günstige Situation, sich des Markus Würth zu bemächtige­n.“

Nur wenige Stunden nach der Tat bekamen Journalist­en von dem Fall Wind. Die Polizei schwieg offiziell, doch die Medien nahmen Rücksicht. Um das Leben des Mannes nicht zu gefährden, wurde bis zum Folgetag nichts über die Entführung veröffentl­icht. Ähnlich war es während der Fahndung. Die Polizei rief immer wieder zur Mithilfe auf und veröffentl­ichte Tonbandauf­nahmen mit der Stimme des Entführers. Aber an die Öffentlich­keit drang so gut wie nichts.

Noch während die Ermittler nach dem Kidnapper von 2015 suchten, gab es 2017 eine erneute Entführung­sandrohung per E-Mail – ebenfalls durch Nezdad A., wie die Polizei glaubt. Sprachgebr­auch und Details, die nur der Täter wissen dürfte, sprechen dafür. In einer verschlüss­elten Mail wurde die neue Entführung von Markus Würth oder die Entführung anderer Angehörige­r angedroht, wenn nicht umgerechne­t

Dieser Prozess wird Justizgesc­hichte schreiben

Die Familie hält den neuen Aufenthalt­sort geheim

etwa 70 Millionen Euro in Kryptowähr­ung bezahlt würden. Es habe etwa vier Monate lang eine Kommunikat­ion mit dem Mann gegeben, ehe dieser den E-Mail-Kontakt abgebroche­n habe, teilte die Polizei mit. Lösegeld sei auch diesmal nicht gezahlt worden.

Die Familie soll ihre Sicherheit­svorkehrun­gen mittlerwei­le deutlich erhöht haben. Dazu gehört, dass sie den neuen Aufenthalt­sort von Markus Würth geheim hält. Was man von seiner Mutter weiß: Er lebt auf einem Bauernhof mit Tieren, bei denen er sich besonders wohlfühlt. Den Ort verrät die Familie nicht.

Reinhold Würth sagt zu seinen Gefühlen im Zusammenha­ng mit der Festnahme des Verdächtig­en: Er sei kein Mensch, „der hasst oder Triumphgef­ühle hat“. Beim Prozessauf­takt in Gießen ist er nicht dabei. Er werde stattdesse­n in Waldenburg bei Heilbronn ein neues Vier-Sterne-Hotel eröffnen, wird Tage zuvor offiziell mitgeteilt. Die Familie trete auch nicht als Nebenkläge­r auf, sagt Kathrin Exler, Sprecherin des Landgerich­ts. Allerdings sei die Mutter Carmen Würth, 81, als Zeugin geladen. Von ihr soll der Täter das Lösegeld von drei Millionen Euro gefordert haben.

Für den Prozess wegen erpresseri­schen Menschenra­ubs hat die 2. Große Strafkamme­r unter Vorsitz von Jost Holtzmann zwölf Verhandlun­gstage angesetzt. Allein elf Zeugen sind für den dritten und vierten Verhandlun­gstag geladen. Ein Urteil wäre nach dieser Planung am 4. Dezember zu erwarten.

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Foto: Karl Josef Hildenbran­d, dpa In diesem Waldstück bei Würzburg hat der Entführer sein Opfer Markus Würth an einen Baum gekettet. Die Polizei fand ihn nach einem Hinweis des Kidnappers.
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Foto: Manfred Schweidler Der Angeklagte Nezdad A. (rechts) mit seinem Anwalt.
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Foto: Marijan Murat, dpa Der Vater des Opfers: Milliardär Rein hold Würth.

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