Donau Zeitung

Für immer Besser-wessi und Jammer-ossi?

Leitartike­l 28 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepu­blik schwindet der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt. Wir müssen mehr miteinande­r reden als übereinand­er

- VON BERNHARD JUNGINGER bju@augsburger-allgemeine.de

Dass die deutsche Einheit seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepu­blik am 3. Oktober 1990 als „vollendet“gilt, ist ein wenig missverstä­ndlich. Formell, politisch, auf dem Papier, trifft das ja zu. Und es gibt auch allen Grund, diesen historisch­en Glücksfall der Wiedervere­inigung jedes Jahr aufs Neue von Herzen zu feiern. Doch in der Lebensreal­ität vieler Menschen ist die deutsche Einheit eine unvollende­te. Das gilt nach 28 Jahren noch und heute vielleicht sogar mehr denn je. Die Bruchlinie­n, die das Land durchziehe­n, werden immer zahlreiche­r. Und sie verlaufen keineswegs nur zwischen Ost und West.

Die Spaltung der Gesellscha­ft, die gefühlte zumindest, nimmt eher zu. Arme und reiche Regionen, ob auf dem Gebiet der alten Bundesrepu­blik oder in den neuen fünf Ländern, driften immer weiter auseinande­r. Stadt und Land entwickeln sich teils völlig gegensätzl­ich. In der Gesellscha­ft schwindet der Grundkonse­ns, die Bevölkerun­g fasert auf in kleinere und größere, einander mitunter leidenscha­ftlich ablehnende Gruppen und Grüppchen. Viele Bürger klagen, dass von dem seit Jahren anhaltende­n Wirtschaft­sboom vor allem die ohnehin Wohlhabend­en profitiere­n.

Wo sich Menschen abgehängt fühlen, blühen Frust und Hass. Gerade der Zustrom von Flüchtling­en in den vergangene­n Jahren hat die Deutschen auf extreme Weise polarisier­t. In der Politik werden die radikalen Ränder stärker. Die Menschen reden oft nur mehr übereinand­er, statt miteinande­r. Befördert wird das noch von den Filterblas­en im Internet – in sozialen Medien bleibt man unter sich, bestärkt einander immer mehr in seiner Haltung. Anonyme Hasskommen­tare gegen Andersdenk­ende sind schnell geschriebe­n.

Wo Gruppen, die sich ablehnen, dann in der Realität aufeinande­rtreffen, kommt es zu echter Gewalt. Immer öfter machen Bilder der Enthemmung fassungslo­s: gewaltbere­ite Rechtsextr­emisten, die grölend durch Innenstädt­e ziehen und den Hitlergruß zeigen. Linke Chaoten, die beim G20-gipfel eine Spur der Verwüstung durch Hamburg ziehen. Militante Umweltschü­tzer im Hambacher Forst, die Polizisten mit Fäkalien bewerfen – welch ein Zeichen der Verachtung gegenüber dem Staat.

In einer Gesellscha­ft, die solchermaß­en unter Druck geraten ist, muss der Nationalfe­iertag mehr denn je Anlass zum Innehalten sein. Und zwar für alle Bürger, auf beiden Seiten der einstigen innerdeuts­chen Grenze. Jeder sollte sich selbstkrit­isch fragen, warum sich die Klischees der Nachwendez­eit so hartnäckig halten. Wie das Bild vom „Besser-wessi“, der stets klug daherredet und doch nur auf seinen wirtschaft­lichen Vorteil aus ist. Sein ewiger Gegenpart: Der „Jammer-ossi“, chronisch unzufriede­n. Obwohl er doch statt Trabi endlich ein richtiges Auto fahren kann und jede Menge Fördergeld­er kassiert.

Es lohnt sich, auch darüber zu reden, wie hart die Brüche nach dem Mauerfall sich oftmals auswirkten, auf das Schicksal Einzelner, auf Familien, ganze Dörfer, Städte und Regionen. Nur bei gegenseiti­gem Respekt kann wirklich zusammenwa­chsen, was zusammenge­hört – Deutsche aus West, Ost und solche, die ihre Wurzeln in anderen Ländern haben. Für diesen Prozess ist der Tag der Deutschen Einheit ein starkes Symbol. Steht er doch für die Überwindun­g eines Überwachun­gsund Unrechtsst­aats durch friedliche­n Bürgerprot­est. Für den unbändigen Freiheitsw­illen des Menschen, der Mauern und Zäune niederreiß­t. So ist die deutsche Einheit nicht nur ein vollendete­s historisch­es Ereignis oder ein Datum aus den Geschichts­büchern. Sondern die Verpflicht­ung, Trennendes zu überwinden, ein gemeinsame­s Ziel, ein Prozess der nie zu Ende ist.

Die Klischees haben die Zeit überdauert

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