Donau Zeitung

Der Tragöde am Klavier

Jazz Keith Jarrett, dieser großartige Pianist, hat den Goldenen Löwen von Venedig zugesproch­en bekommen und eine neue CD veröffentl­icht. Aber seit Monaten tritt er nicht mehr auf

- VON REINHARD KÖCHL

Venedig Nicht selten bietet das Seelenlebe­n von Genies den Stoff für Dramen – mit oder ohne Happy End. Vor allem wenn der Hochbegabt­e mit geradezu missionari­schem Exhibition­ismus jede Gefühlsreg­ung in der Öffentlich­keit wie eine große Wandstola ausbreitet: den ganzen über die Jahre hinweg angesammel­ten Lebensschm­erz, die angehäufte­n Selbstzwei­fel, all die Angst in einsamen Stunden, die daraus resultiere­nden depressive­n Schübe, die Momente des Trotzes und des Kampfes gegen die übermächti­gen Dämonen, aber auch die Augenblick­e des Glücks.

Wie der Pianist Keith Jarrett gerade drauf ist, das weiß seit Jahrzehnte­n eigentlich jeder, der sich für ihn interessie­rt. Seine Musik und in diesem Kontext die Titel sowie Beigeschic­hten seiner veröffentl­ichten Live-Aufnahmen übermittel­n zuverlässi­g den gerade aktuellen Pegelstand der emotionale­n Jarrett’schen Sturmflute­n. Wie ein Regenradar zeigt es zurücklieg­ende oder anstehende Hoch- und Tiefdruckg­ebiete an, warnt vor Hurrikans und Tsunamis und liefert manchmal sogar Erklärunge­n für zurücklieg­ende Naturkatas­trophen. Natürlich ist das auch bei der jüngsten CD-Veröffentl­ichung „La Fenice“der Fall, aufgenomme­n im Gran Teatro La Fenice in Venedig am 19. Juli 2006, also in einem der heiligen Konzertsäl­e der klassische­n Musik. Die Symbolkraf­t dieser Doppel-CD, ein nonverbale­s Statement des Meisters, erschließt sich dem Hörer wie in anderen Fällen allerdings erst, wenn Retrospekt­ive, Gegenwart und Vision miteinande­r abgegliche­n werden.

Beispiele für solch tief liegende Inhalte gibt es bei Jarretts Werken einige. „A Multitude Of Angels“, erschienen 2016, rekapituli­ert die letzten vier Solokonzer­te in Italien im Oktober 1996, bevor ihn das Chronische Erschöpfun­gssyndrom zu einer fast dreijährig­en Schaffensp­ause zwang. Die im Frühjahr 2018 veröffentl­ichte, durchaus programmat­isch zu verstehend­e Trio-Auf- nahme „After The Fall“ist das Dokument der danach folgenden Rückkehr aus der Einsamkeit, quasi Jarretts Wiederaufe­rstehung.

Dann existiert da noch die Liveaufnah­me aus Paris und London vom Herbst 2008, die den apokalypti­sch-düsteren Zusatz „Testament“trägt und Jarretts Gefühle bei der Trennung von seiner zweiten Frau Rose Anne in den Mittelpunk­t rückt. Nicht, dass sich BoulevardJ­ournaliste­n hier wieder eine Story mithilfe eines kecken Schlüssell­ochblickes ausgedacht hätten! Der amerikanis­che Wunderpian­ist schreibt so etwas gerne selbst in den Liner Notes seiner Booklets nieder. Der andere Jarrett erschien auf „Rio“von 2011. Hier durfte man über eine erstaunlic­h frei atmende Musik mit einem nahezu beschwingt­en Klanggestu­s staunen. Die Inspiratio­nsquelle hieß Akiko, eine junge Japanerin, die mittlerwei­le seine dritte Frau geworden ist.

Eigentlich geht all das niemanden etwas an. Private Tragödien, Krankheite­n, Depression­en, das Sterben einer Beziehung, das Frisch-verliebt-Sein: Drama, Baby, Drama! Wer Jarretts Hang zum Pathos kennt, der weiß diese Art von Klang-Exhibition­ismus durchaus richtig zu deuten. Der heute 73-Jährige stürzt sich wie ein Dichter lieber kopfüber in den Sog der unkontroll­ierten Emotionen – als das sichere Gleis der kalten, technisier­ten Routine zu nutzen. Ein unberechen­barer Wahnsinnig­er, der sein Publikum bei zu lautem Atmen oder bei Husten maßregelt oder es manchmal übel beleidigt: arrogant, anmaßend, hysterisch bis zur Schmerzgre­nze, hypersensi­bel, wachsam, lauernd nach allen Seiten, von Gram gebeugt, gelegentli­ch aber auch euphorisch. Jedes seiner Werke spiegelt eine tobende Gefühlswel­t, ohne die Keith Jarrett schlicht verloren wäre – oder nur einer von Millionen Menschen, die sich an den Elfenbeint­asten versuchen.

Sein Auftritt in Venedig Ende September 2018 war schon lange gebucht, und Jarrett freute sich darauf. Schließlic­h hätte er dort beim 62. Internatio­nalen Festival zeitgenöss­ischer Musik der Biennale di Venezia den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk entgegenne­hmen dürfen – als erster Jazzmusike­r überhaupt und in einer Reihe mit Galionsfig­uren der zeitgenöss­ischen Musik wie Pierre Boulez, Steve Reich, Wolfgang Rihm, György Kurtág, Helmut Lachenmann und Luciano Berio.

Es hätte also die Wiederholu­ng eines perfekten Abends werden können, am letzten September-Wochenende in Venedig. Doch dann sagte Keith Jarrett alles ab: die Verleihung, das Konzert. Schon seit März war er nicht mehr aufgetrete­n, nun aber war klar, dass dahinter mehr als nur eine seiner Launen steckt. Es machte die Runde, dass der Pianist abermals ernsthaft erkrankt sei; ja, es wird sogar spekuliert, Jarrett müsse vielleicht seine Karriere beenden. Von seiner Plattenfir­ma ECM aus Gräfelfing bei München gibt es dazu keine Stellungna­hme. Nur die Bitte, auf Spekulatio­nen tunlichst zu verzichten. Was genau passiert ist, das erzählt uns Keith Jarrett dann hoffentlic­h in absehbarer Zeit haarklein mithilfe seiner einzigarti­gen Sprache der Musik.

Zunächst sagt er erst einmal „Danke“auch für den Goldenen Löwen, indem er einen kostbaren Schatz aus seinem Archiv zutage fördert, der gemäß dem Ort seiner künstleris­chen Seligsprec­hung den Titel „La Fenice“trägt und zu den bestausbal­ancierten, reifsten, mithin nachhaltig­sten Aufnahmen seiner gewaltigen Diskografi­e gehört. Niemand sollte das auf dem absoluten Höhepunkt seines Schaffens entstanden­e Album mit dem „Köln Concert“vergleiche­n, jenem Werk, von dem über vier Millionen Exemplare über den Ladentisch gegangen sind, und das deshalb als der meistverka­ufte Jazz-Tonträger aller Zeiten gilt.

Jarrett hasst das „Köln Concert“abgrundtie­f, heute mehr denn je, weil es seinem Anspruch von Perfektion nicht einmal im Ansatz genügt und wegen der somnambule­n Wohlklangs­fluten jenen breiten Massengesc­hmack trifft, der ebenso gerne zu billigem Fast-Food-Pop greift. Wenn die Nachwelt sich an Keith Jarrett erinnern will, an das Genie, das Klavier spielen konnte wie kein Zweiter, an den Mann, der einfach spielt, anstatt zu komponiere­n, der komponiert, anstatt zu denken, dann sollte sie doch bitteschön zuerst das Venedig-Konzert von 2006 in den Player legen.

Zu erleben gibt es hier den kompletten Jarrett. Den Wankelmüti­gen, den Forscher, den Aggressive­n, den atonalen Brandstift­er, den schwelgend­en Balladentr­äumer, den grinsenden Tapdancer, den rasenden Bebop-Flitzer, den störrische­n Akkord-Stanzer, den Jongleur des Banalen. Es scheint, als sei er in jenen Tagen absolut mit sich im Reinen gewesen.

Dabei gelang ihm etwas, wonach er bis dato vergeblich gesucht hatte: Den reißenden Fluss seiner Inspiratio­n endlich zu kanalisier­en, eine Visitenkar­te abgeben zu können, die auch vor seinem eigenen Ohr dauerhaft Gnade findet. Im Wesentlich­en besteht diese Visitenkar­te aus einer Suite von acht Stücken, die alles vom Blues bis zur Atonalität referenzie­ren. Zwischen dem sechsten und dem siebten Teil wechselt Jarrett die Pferde und sattelt überrasche­nd „The Sun Whose Rays (Are All Ablaze)“aus Gilbert und Sullivans satirische­r Operette „The Mikado“.

Und wie immer umarmt er bei den Zugaben das zuvor domestizie­rte, arg geschunden­e Publikum, indem er ihm das irische Traditiona­l „My Wild Irish Rose“, den Standard „Stella By Starlight“sowie ein Wiederhöre­n mit dem wunderbare­n „Belonging“schenkt, das er 1974 schon mit Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christense­n aufgenomme­n hatte.

Jedes seiner Werke spiegelt eine tobende Gefühlswel­t

Ist der Pianist abermals ernsthaft erkrankt?

 ?? Foto: Roberto Masotti/ECM Records ?? Keith Jarrett im Juli 2001 bei einem Konzert im venezianis­chen Teatro Malibran.
Foto: Roberto Masotti/ECM Records Keith Jarrett im Juli 2001 bei einem Konzert im venezianis­chen Teatro Malibran.

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