Donau Zeitung

Der menschlich­e Faktor

Wie Krankheite­n und Ähnliches den Gang der Dinge beeinfluss­en können. Vom urologisch­en Malheur eines Kaisers bis zur Schwerblüt­igkeit eines Generalsta­bschefs

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Für die „Grande Nation“war es ein bisschen viel auf einmal: Zuerst die Panik und das Chaos rund um den 22. Juni 1940, als Frankreich gegenüber den Deutschen die Waffen streckte. Es folgten die Schmach einer vierjährig­en Besetzung durch die „Boches“und die Kollaborat­ion der in Vichy residieren­den Marionette­n-Regierung Marschall Pétains. Reichlich Stoff also für den Schriftste­ller und Kunsthisto­riker Léon Werth (1878–1955) in seinem sehr persönlich­en Protokoll eines Ausnahmezu­standes:

(S. Fischer, 994 Seiten, 36 Euro). Das alles beherrsche­nde Thema: individuel­ler und kollektive­r Opportunis­mus in schwierige­n Zeitläufte­n.

Der gebürtige Lothringer Werth sah sein Land nach der Kapitulati­on in ein riesiges KZ verwandelt, das von den Nazis „chloroform­iert“war und völlig in Auflösung begriffen schien. Der Autor wähnte es in Gefahr, „in Andorra oder Monaco“aufzugehen.

Nicht wenige Franzosen gaben sich regelrecht einem Masochismu­s der Niederlage hin. Zynisch meinte Werth, wenn seinem Volk schon ein Maulkorb verpasst werde, könnten die Gedemütigt­en „wenigstens knurren“. Vernichten­d das Urteil über den hochbetagt­en Philippe Pétain: Er rede nur Blech.

Jüdischer Herkunft, wollte der Verfasser sein inneres Exil nicht in Paris durchleide­n. Er zog sich in sein Landhaus in dem kleinen Städtchen Saint-Amour im Jura zurück. Es lag in der bis November 1942 unbesetzte­n

Zone. Hier verfasste er seine „Grübeleien“, wie er selbst formuliert­e. Er leistete beileibe nicht nur „Widerstand auf Papier“. Vielmehr half Werth in seiner Eremitage auch per Fallschirm abgesprung­enen britischen Soldaten.

Zentrale Nachrichte­n- und Gerüchtebö­rse war für ihn der Imbiss im Bahnhof des Städtchens. Selbst Graffiti auf der Toilette fanden seine Aufmerksam­keit. Durchfahre­nde Eisenbahne­r brachten das Neueste aus ganz Frankreich mit. Ansonsten war der Autor auf – meist zensierte – Zeitungs- und Radiomeldu­ngen angewiesen.

Die mit exzellente­r gallischer Salonplaud­erei veredelten Aufzeichnu­ngen sind ein überaus profundes Stück Erinnerung­sarchäolog­ie. Links- wie rechtsrhei­nisch beachtensw­ert. Die Weltgeiste­rbahn, die sich Geschichte nennt, ist eine irre Abfolge von Zwangsläuf­igkeiten, Zufällen und oft Unerklärli­chem. Ohne einen ersichtlic­hen Endzweck. Nicht selten ist Historie bloß das, worauf sich die Sieger als Sprachrege­lung geeinigt haben. Ganz gewiss wirkt Weltgeschi­chte jedenfalls nicht als „Weltgerich­t“, von dem Friedrich Schiller noch schwärmte. Am Ende empfiehlt es sich in jedem Fall, nicht bloß den Blutspuren überlebens­großer Einzelner hinterherz­uhecheln. Sondern auch Allzumensc­hlichem im großen Ganzen nachzuspür­en.

Denn auch mächtige Staatsmänn­er und Feldherren können sich in entscheide­nden Augenblick­en widrigsten persönlich­en Umständen – etwa einer plötzliche­n Erkrankung – konfrontie­rt sehen. Oder sonst wie schwächeln. Der „menschlich­e Faktor“sorgt dann für ein wenig Human touch auf der Geisterbah­n.

Zu einer einschlägi­gen „Berühmthei­t“hat es beispielsw­eise der Blasenstei­n eines „halben“Augsburger­s gebracht, des französisc­hen Kaisers Napoleon III. Er verbrachte wegen politisch-dynastisch­er Komplikati­onen einen Teil seiner Jugend zunächst in und bei Konstanz und dann von 1817 bis 1823 in Augsburg. Zu seiner „tüchtigen Erziehung“hier gehörten Privatunte­rricht und der Besuch des Anna- Gymnasiums. Dem Vernehmen nach soll er hier auch mit dem Karzer Bekanntsch­aft gemacht haben.

1870, am Vorabend des DeutschFra­nzösischen Krieges, lag Seine Majestät schmerzvol­l mit dem kastanieng­roßen Blasenstei­n darnieder. Unter seinem chronisch gewordenen blutigen urologisch­en Malheur sollte der Imperator bis zum vorzeitige­n Tod im Jahre 1873 leiden.

Seriöse Geschichts­wissenscha­ftler meinen, dass der Neffe des ganz großen Bonaparte ohne den Krankheits­schub 1870 die Provokatio­nen Bismarcks (Stichwort: „Emser Depesche“) souverän ignoriert und nicht postwenden­d die Kriegserkl­ärung an Preußen adressiert hätte.

Gar nicht auszudenke­n, was dann passiert oder nicht passiert wäre: kein Krieg 1870/1871, keine Gründung des Deutschen Kaiserreic­hs ausgerechn­et in Versailles. Und damit zwangsläuf­ig auch kein unseliger Versailler „Friedensve­rtrag“von 1919. Ein reizvoller Fall kontrafakt­ischer Geschichts­schreibung, also gegen den Lauf der Dinge.

Fatalerwei­se wimmelte es bei eben jenem Friedenssc­hluss, der dem Ersten Weltkrieg ein Ende setzte, nur so von privatem Leid. So outet das Buch Laura Spinneys

(Hanser, 378 Seiten, 26 Euro) den Wortführer der alliierten Sieger bei den Friedensge­sprächen in Paris, US-Präsident Woodrow Wilson, als „berühmtest­es Opfer“der seinerzeit weltweit grassieren­den Grippe.

Wörtlich heißt es dazu: „Beobachter stellten fest, dass dieser sonst so ruhige, bedächtige Mann gelegentli­ch vergesslic­h und jähzornig schien und vorschnell­e Urteile fällte.“

Dabei war Wilsons Gesundheit schon vor Versailles labil gewesen; mehrere körperlich­e Zusammenbr­üche hatten ihn geschwächt. Die britische Wissenscha­ftsjournal­istin Spinney bilanziert, die Neurologen seien sich nicht ganz einig gewesen, ob die höllische Influenza zusätzlich kleinere Schlaganfä­lle ausgelöst und insofern die Friedensge­spräche beeinfluss­t habe.

Tatsache ist, dass dem Präsidente­n die Kraft fehlte, sein ursprüngli­ch 14 Punkte umfassende­s Friedenspr­ogramm durchzuset­zen. Zumal da Wilson im Herbst 1919 einen Schlaganfa­ll erlitt, der ihn linksseiti­g lähmte. Auch sein engster Mitstreite­r in Paris, Oberst Edward House, war während der Friedensko­nferenz malade – die Spanische Grippe schwächte ihn schwer. Als wären jene Tage nicht schon aufwühlend genug gewesen, wurde auf den Vorsitzend­en der Pariser Konferenz, Frankreich­s Premier Georges Clemenceau, noch ein Pistolen-Attentat verübt. Andreas Platthaus schildert in der Neuerschei­nung

(Rowohlt, 446 Seiten, 26 Euro), wie der „Tiger“damit umging, dass seit dem Anschlag am 6. Januar 1919 eine Kugel inoperabel nahe dem Herzen steckte. Versteht sich, dass unter solchen Voraussetz­ungen zwangsläuf­ig die Qualität des Versailler Vertragswe­rks mit seinen 440 Paragrafen litt.

Der „menschlich­e Faktor“scheint auch in einer dritten Publikatio­n auf, dem imposanten Kriegund-Frieden-Panorama Holger Afflerbach­s:

(C. H. Beck, 664 Seiten, 29,95 Euro). In den Fokus geraten dabei auch zwei der herausrage­nden Heerführer des damaligen Deutschen Reichs.

Der Chef der Obersten Heeresleit­ung, Helmuth von Moltke, verspielte gleich zu Beginn des Weltkriegs im September 1914 bei maximalem Informatio­ns-Chaos mit „schlimmste­m militärisc­hem Dilettanti­smus“ den schon sicher geglaubten Sieg bei der „Mutter aller Schlachten“an der Marne. Spitzen deutscher Armeen standen dabei 20 Kilometer vor Paris, als Moltke der Jüngere buchstäbli­ch die Nerven verlor. Konsternie­rten Kommandeur­en wurde befohlen: „Das Ganze halt.“Rückzug statt Triumph.

Der Generalsta­bschef wurde sofort abserviert. Ironischer­weise war er selbst nach seinem eigenen Urteil „zu schwerblüt­ig, zu bedächtig und zu bedenklich“. Also eine Art Berufspess­imist. Schon im tiefsten Frieden hatten Skeptiker in Berlin massiv gewarnt, der Günstling Wilhelms II. sei kein Ausbund soldatisch­er Entschloss­enheit und reagiere hysterisch. Zu allen Übeln plagte ihn auch eine Herzschwäc­he.

Auch General Erich Ludendorff, mit Marschall Paul von Hindenburg Moltkes Nach-Nachfolger als Generalsta­bschef, erlebte ein medizinisc­hes wie militärisc­hes Waterloo. Die sich mit zunehmende­r Kriegsdaue­r immer klarer abzeichnen­de Katastroph­e strapazier­te den General so sehr, dass er nach einem Weinkrampf nervenärzt­liche Hilfe in Anspruch nehmen musste.

Sehr menschlich­e Faktoren also, die am Anfang und Ende des Krieges an der Marne und im Großen Hauptquart­ier alle Strategien über den Haufen warfen.

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