Donau Zeitung

Der sinnlose Tod des Chris Gueffroy

Vor 30 Jahren starb ein 20-Jähriger an der deutsch-deutschen Grenze in Berlin im Kugelhagel. Es sollte der letzte Mensch sein, der beim Versuch, in den Westen zu gelangen, erschossen wurde. Die Mauer fiel neun Monate später

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Stirbt ein Soldat in den letzten Tagen eines langen Krieges, so gilt sein Tod als besonders tragisch und sinnlos. So ähnlich ist es auch im Falle von Chris Gueffroy: In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 liegt der Körper des 20-Jährigen leblos in den Sperranlag­en zwischen dem Bezirk Treptow in Ostberlin und Neukölln im Westen der Stadt. Nur neun Monate später fällt die Mauer, die Deutschlan­d 28 Jahre geteilt hat.

Rund zehn Schüsse treffen den jungen Mann, ein Projektil verletzt sein Herz. Ein Freund, der mit ihm die Flucht wagt, überlebt schwer verletzt. Gueffroys Mutter, die unweit des Tatortes wohnt, wird von den peitschend­en Schüssen aus dem Schlaf gerissen. Ihr ist sofort klar, dass wieder jemand versucht hat, den Todesstrei­fen zu überwinden. Dass es ihr Sohn ist, der wenige hundert Meter entfernt im Sterben liegt und um 0.15 Uhr von einem Arzt der Grenztrupp­en für tot erklärt wird, ahnt sie nicht. Erst zwei Tage später wird Karin Gueffroy mitgeteilt, dass Chris bei einem „Angriff auf militärisc­hes Sperrgebie­t“getötet worden sei.

Warum machen sich die Freunde in dieser kalten Winternach­t auf ihren hochriskan­ten Weg? Zu einer Zeit, als die Welt atemlos verfolgt, wie der russische Präsident Michail Gorbatscho­w sein Land öffnet und der angeschlag­ene Ostblock in immer schnellere­m Tempo erodiert. Um die Verzweiflu­ng der beiden zu verstehen, muss man wissen, dass die faktisch insolvente und moralisch abgewirtsc­haftete DDR auf Glasnost und Perestroik­a mit exemplaris­cher Härte reagiert und sich fast schon schroff vom großen Bruder Sowjetunio­n distanzier­t hat. Den herannahen­den Mauerfall sehen nur die allerwenig­sten voraus.

Chris Gueffroy und sein Kumpel Christian Gaudian, die in einem Lokal in der Innenstadt arbeiten, sind schon lange angewidert von Korruption und Kontrolle in der DDR. Schlimmer noch: Gueffroy, der nicht zum Abitur zugelassen worden ist, fürchtet, dass er keine Chance haben wird, seine Träume zu verwirklic­hen. Schauspiel­er will er werden, unbedingt einmal Amerika sehen. Doch er kellnert in einer der tristen Ostberline­r Gaststätte­n mit ihrem berüchtigt­en Kantinen- charme. Die Aussicht, noch Jahre lang Broiler mit Sättigungs­beilage – also halbe Hähnchen mit Salat – zu servieren, ist den Freunden unerträgli­ch. Letztlich aber lässt ein erbarmungs­los näher rückender Termin die Fluchtplän­e immer konkreter werden: Gueffroys Dienst bei der Nationalen Volksarmee steht an.

Die Gelegenhei­t scheint günstig, als der schwedisch­e Regierungs­chef Ingvar Carlsson zu einem Staatsbesu­ch in der Hauptstadt der DDR weilt. Die beiden Freunde glauben an das Gerücht, dass der Schießbefe­hl an der Grenze für die Zeit solcher Besuche ausgesetzt sei, um das Renommee des Staates nicht zu untergrabe­n. Ein fataler Irrtum, der dazu führt, dass die beiden Männer die Bedrohung unterschät­zen, als sie sich der Grenze nähern. Zu Anfang geht alles glatt. Doch den letzten Zaun im Blick, löst einer von ihnen das ausgeklüge­lte Alarmsyste­m der Grenzanlag­en aus. „Stehen bleiben“, ruft der Grenzsolda­t, bevor er 20 Schüsse auf die Fliehenden abfeuert. Die Flucht endet in einer blutigen Katastroph­e.

Wie in so vielen Fällen zuvor, versuchen die DDR-Behörden, den Tod von Gueffroy zu vertuschen. Doch die Mechanisme­n greifen nicht mehr. Unter den Gästen bei

Er wollte unbedingt einmal Amerika sehen

Die Behörden versuchten, den Fall zu vertuschen

der Beerdigung sind nicht nur StasiMitar­beiter, sondern auch Journalist­en aus dem Westen. Die Tat lässt sich nicht verheimlic­hen.

Der Name Gueffroy ist aus einem weiteren Grund bis heute bekannt. Im ersten Mauerschüt­zenprozess nach der Wende muss sich der Grenzbeamt­e, der geschossen hatte, vor Gericht verantwort­en. In zweiter Instanz wird der Schütze zu einer Bewährungs­strafe verurteilt.

Gueffroy wird oft als letztes Opfer des DDR-Grenzregim­es bezeichnet. Dabei bezahlte noch im März 1989 ein Mann den Versuch, in den Westen zu gelangen, mit seinem Leben. Besonders tragisch: Der 32-Jährige hatte mit einem Ballon Marke Eigenbau bereits BerlinZehl­endorf, also westlichen Luftraum erreicht, als die Konstrukti­on versagte und ihn in den Tod riss. Doch dieser ebenfalls tragische Fall gerät mit den Jahren fast in Vergessenh­eit.

Unweit der Stelle, an der die tödlichen Schüsse fielen, erinnert ein Gedenkstei­n an Chris Gueffroy. An den letzten Menschen, der an der Mauer im Kugelhagel gestorben ist.

 ?? Foto: Daniel Naupold, dpa ?? Gedenken an Chris Gueffroy – Blumen am Denkmal für die Opfer der Berliner Mauer erinnern an den letzten Menschen, der an der deutsch-deutschen Grenze erschossen wurde.
Foto: Daniel Naupold, dpa Gedenken an Chris Gueffroy – Blumen am Denkmal für die Opfer der Berliner Mauer erinnern an den letzten Menschen, der an der deutsch-deutschen Grenze erschossen wurde.

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