Donau Zeitung

Vier Tote und keine Schranke

Im Januar rammt ein Zug in Pfronten den Wagen eines 47-Jährigen. Wieder stirbt ein Autofahrer an diesem Bahnüberga­ng. Dabei fordert die Gemeinde seit fast 20 Jahren, dass die Stelle endlich sicherer wird. Aber nichts ist passiert. In Pfronten sagen sie je

- VON MARKUS RÖCK UND SONJA KRELL

Pfronten Wenn der Zug besonders lange pfeift oder noch ein paar Mal nachpfeift, rennt Renate Käsbach ans Küchenfens­ter. Dann könnte es wieder heikel werden am gut hundert Meter entfernten Bahnüberga­ng der Badstraße in Pfronten, den sie durch ein paar Bäume hindurch sehen kann. So wie Ende Januar, als eine Bahn das Fahrzeug eines 47-Jährigen erfasste. Er war der vierte Tote an dieser Stelle in den vergangene­n 20 Jahren. Dazu kommen mehrere Unfälle, die für die beteiligte­n Autofahrer noch vergleichs­weise glimpflich ausgingen.

Zwei Mal schon rief Käsbach nach einem Knall am Bahnüberga­ng die Polizei. Wie sich herausstel­lte, hatte der Zug jeweils das Fahrzeug in die Wiese geschleude­rt. Vor ein paar Monaten erlebte sie mit, wie eine Regionalba­hn gerade noch rechtzeiti­g halten konnte. Der Zugführer sei ausgestieg­en und habe den Autofahrer heftig beschimpft. „Mit Recht“, betont die 73-Jährige. Schließlic­h sei es auch für einen Zugführer schrecklic­h, wenn etwas passiert, obwohl er sich an alle Vorschrift­en gehalten hat.

Der Schreck fährt den Anwohnern jedes Mal in die Glieder, wenn am Bahnüberga­ng wieder etwas los ist, sagt ihr Nachbar Manfred Wünsch. Schließlic­h könnte es diesmal einen Verwandten, einen Nachbarn oder ein Kind erwischt haben. Seit 1965 lebt der 77-Jährige in der Tränkbach-Siedlung, er hatte auf einem Grundstück seiner Frau gebaut. Deren Onkel war 1963 vom Zug erfasst und getötet worden. „Seitdem herrscht Angst“, sagt Wünsch. Früher, als hier noch fast jedes Haus Urlauber beherbergt­e, habe man die jedes Mal vor dem gefährlich­en Übergang gewarnt.

Es ist ja nicht nur Pfronten im Ostallgäu. Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen an Bahnübergä­ngen in Bayern – mit teils dramatisch­en Folgen. Am vergangene­n Montag zum Beispiel krachte es innerhalb weniger Stunden gleich drei Mal. In Markt Indersdorf im Kreis Dachau wurde einem 88-Jährigen sein eigener Leichtsinn zum Verhängnis. Obwohl ein Warnlicht blinkte und die Halbschran­ke geschlosse­n war, versuchte der Mann, diese zu umfahren. Die S-Bahn, die er nicht kommen sah, schleifte sein Auto mehrere hundert Meter mit. Der 88-Jährige starb noch an der Unfallstel­le.

Oder, ein paar Stunden später, im Kreis Landshut, wo eine Briefzuste­llerin mit ihrem Fahrzeug direkt auf dem Bahnüberga­ng im Schnee stecken blieb. Die 50-Jährige wollte das Postauto von den Gleisen schieben, konnte sich dann aber wenigstens in Sicherheit bringen, als der Regionalzu­g nahte.

Das dritte dramatisch­e Beispiel dieses Morgens stammt aus Hirschfeld­en, einem Stadtteil von Krumbach. Nördlich des Dorfs trifft eine Ortsverbin­dungsstraß­e auf die Gleise der Mittelschw­abenbahn, ein Andreaskre­uz weist darauf hin. Warum aber ein 68-Jähriger den Zug nicht kommen sah? Warum er auch nicht reagierte, als der Lokführer versuchte, ihn mit einem Tonsignal zu warnen? Das sind Fragen, die die Staatsanwa­ltschaft klären muss. Der Zug jedenfalls erfasste das Auto, schleifte es 40 Meter mit, der Rentner starb noch vor Ort.

Bahnübergä­nge, das zeigt nicht nur dieser schwarze Montag, sind Gefahrenma­gneten. Auch wenn die Unfallzahl­en deutlich zurückgega­ngen sind. 2016 gab es bundesweit 140 Unfälle auf Bahnübergä­ngen, 28 Menschen kamen ums Leben. 20 Jahre zuvor waren es noch fast 600 Unfälle und 100 Tote. Das liegt auch daran, dass es deutlich weniger Bahnübergä­nge gibt. 3113 sind es derzeit noch in Bayern, halb so viele wie vor 25 Jahren. Davon ist knapp die Hälfte mit einer technische­n Sicherung ausgestatt­et – mit einem Blinklicht, mit Halbschran­ken oder Schranken, die über die gesamte Fahrbahn reichen.

In der Badstraße in Pfronten warnt nur ein Andreaskre­uz vor der Außerfernb­ahn, die im Stundentak­t zwischen Kempten und Reutte in Tirol verkehrt. Dabei, sagen die Anwohner, könnte das längst anders sein. Seit einem tödlichen Unfall Anfang 2002 fordert die Gemeinde an dieser Stelle eine Schranke. Eine Zeit lang sah es auch so aus, als könnte diese kommen. 2002 unterzeich­neten DB Netz und die Gemeinde eine Planungsve­reinbarung über Halbschran­ken mit Blinklicht an dem Übergang. Doch nichts passierte. Ende 2007 soll die Bahn zugesagt haben, dass die Planungen von Neuem aufgenomme­n würden. Und wieder passierte nichts.

Im März 2016 erneuerte die Gemeinde in einem Schreiben die Forderung nach einer Schranke. Die Bahn soll daraufhin mitgeteilt haben, dies sei nicht möglich – unter anderem, weil die Verkehrsza­hlen an dieser Stelle zu gering seien. Die Gemeinde Pfronten spricht von 900 Fahrzeugen pro Tag, die den Übergang nutzen, und davon, dass die Bahn für eine Schranke eine Frequenz von mindestens 2500 pro Tag verlange. Auf Nachfrage betont ein Bahnsprech­er, dass es solche Richtwerte nicht gebe. Ob ein Übergang technisch gesichert werden kann, hänge von mehr Faktoren ab – etwa, wie viele Züge unterwegs sind und wie schnell diese fahren.

Und Technik allein sei nicht in der Lage, Unfälle zu verhindern, heißt es bei der Bahn. Weil es Autofahrer gibt, die versuchen, herunterge­lassene Halbschran­ken zu umkurven – mit 42 Prozent die Unfallursa­che Nummer eins an diesen Übergängen, zeigt eine Studie der Unfallfors­chung der Versichere­r. Darin heißt es: „Unfälle an Bahnübergä­ngen sind in der Regel kein Problem der Bahntechni­k, sondern der kreuzenden Kraftfahre­r.“Nach Auswertung­en der Deutschen Bahn sind 95 Prozent der Unfälle Leichtsinn, Unaufmerks­amkeit oder Unkenntnis geschuldet. Der Sprecher sagt: „Insgesamt ereignen sich an Bahnübergä­ngen mit Schranken und/oder Blinklicht­ern mehr Unfälle als an den nicht technisch gesicherte­n Bahnübergä­ngen.“

Dieses Argument aber lässt Verkehrswi­ssenschaft­ler Eric Schöne von der TU Dresden nicht gelten. Schließlic­h gebe es an beschrankt­en Bahnübergä­ngen auch deutlich mehr Verkehr – und dadurch steige auch die Unfallgefa­hr. Zudem verweist er auf internatio­nale Studien, die den Wert von Bahnschran­ken belegen. Danach wird ein Übergang, der nur mit Andreaskre­uz ge- sichert ist, für den einzelnen Verkehrste­ilnehmer um das Zehnfache sicherer, wenn ein Blinklicht da ist – und um das Hundertfac­he, wenn Halbschran­ken installier­t werden.

Renate Käsbach und Manfred Wünsch verstehen nicht, warum es die in Pfronten nicht gibt. Auch weil sie den Verkehr vor ihrer Haustüre schon so lange beobachten: Wer aus Richtung Nordosten kommt und in den Süden will, kann auf diesem Weg den engen und stauträcht­igen Ortskern umgehen. Allerdings führt der Weg über eine schmale, kurvenund schlagloch­reiche Straße am Fuß des Falkenstei­ns, bis er auf die beiderseit­s des Bahnüberga­ngs gut ausgebaute Badstraße mündet. Dort ignorieren viele das Tempo20-Schild vor dem Bahnüberga­ng. Und auch das laute Pfeifen des Zugs, dessen Echo von den Berghängen zurückscha­llt, hört scheinbar nicht jeder. „Russisch Roulette“nennt Manfred Wünsch das, was sich auf dem Bahnüberga­ng abspielt. Nicht nur Einheimisc­he nutzen den Schleichwe­g. Anfang 2002 waren es zwei Urlauber aus Göppingen, Vater und Tochter, die auf dem Weg zum Skifahren getötet wurden, als ein Zug ihren Pkw auf dem Bahnüberga­ng erfasste.

Besonders betroffen von der Gefahrenst­elle ist der Werkzeugma­schinenher­steller Deckel Maho. 1600 Mitarbeite­r sind am Pfrontener Standort beschäftig­t, zu dem eine Zufahrt über die Badstraße führt, über die man auch das neue, 1100 Stellplätz­e große Mitarbeite­rparkhaus erreicht. Den Schleichwe­g über die Bahngleise kennen natürlich auch viele Beschäftig­te. Im März 1999 bezahlte das einer von ihnen mit seinem Leben. Vor zwei Wochen nun traf es einen leitenden Mitarbeite­r des Mutterkonz­erns DMG Mori, der sich wegen einer Hausausste­llung in Pfronten aufhielt. Der 47-Jährige war auf dem Weg ins Hotel, als die Regionalba­hn sein Auto erfasste.

Bei Deckel Maho herrscht eine Mischung aus Wut und Trauer, sagt Geschäftsf­ührer Alfred Geißler. Dazu komme großes Unverständ­nis über die bürokratis­chen Hemmnisse für eine Sicherung des Bahnüberga­ngs. Dass es mehrere Jahre dauern soll, bis dort Schranken stehen, ist für die Mitarbeite­r eines HightechUn­ternehmens nicht nachzuvoll­ziehen, sagt Geißler: „Wir machen wesentlich komplexere Dinge in einer viel kürzeren Zeit.“

Allerdings müsste die Bahn dafür das Verfahren überhaupt erst mal in Gang bringen. Das Unternehme­n hat schon 2018 zugesagt, sich finanziell an einer Bahnschran­ke zu beteiligen. Nun hat es nochmals schriftlic­h bestätigt, ein Drittel der

Und immer die bange Frage: Wen hat es jetzt erwischt?

Eine Firma ist bereit, sich an den Kosten zu beteiligen

Kosten übernehmen zu wollen. Auch die Gemeinde hat ihren Anteil zugesagt.

Für Bürgermeis­terin Michaela Waldmann geht es jetzt vor allem darum, dass endlich die Planung in Gang kommt. Auf eine Resolution des Gemeindera­ts hin haben der Bundestags­abgeordnet­e Stephan Stracke und die Landtagsab­geordnete Angelika Schorer (beide CSU) Bayerns Bahnchef Klaus-Dieter Josel zu einem persönlich­en Gespräch mit der Bürgermeis­terin aufgeforde­rt. Parallel prüft die Gemeinde, was sie zusätzlich zu Tempolimit und Warnschild­ern noch tun kann, um den Übergang sicherer zu machen. Nachgedach­t wird etwa über ein Rüttelpfla­ster, um Autofahrer vor dem Übergang zu warnen, oder zusätzlich­e Fahrbahnma­rkierungen.

Auch aus Sicht der Rettungskr­äfte ist es höchste Zeit, dass etwas passiert. Für mehrere war es im Januar bereits der dritte tödliche Verkehrsun­fall an dieser Stelle – von Unfällen an anderen Übergängen ganz abgesehen. „Da bleibt schon etwas hängen“, sagt ein Notfallsan­itäter aus Pfronten – auch wenn man solche Dinge im Gespräch untereinan­der verarbeite. Wenn er höre, dass an einem Bahnüberga­ng etwas passiert sei, „gehen bei mir die Alarmglock­en an“, sagt er. Und nicht nur, weil bei einem Unfall mit einem Zug immer von einer großen Zahl potenziell Verletzter ausgegange­n werde.

Jetzt, sagen sie in Pfronten, ist die Bahn gefragt. Ein Sprecher verweist darauf, dass es dem Unternehme­n um ein Gesamtkonz­ept gehe. Dafür müsse man alle Bahnübergä­nge auf der Strecke prüfen. Auf den 35 Kilometern zwischen Kempten und Pfronten sind das 70 – und allein auf den vier Kilometern durch Pfronten 14. Die Bahn, so viel ist klar, will die Zahl reduzieren, Übergänge stilllegen und dann entscheide­n, wie die verblieben­en gesichert werden sollen. Doch dieses Planungsve­rfahren wird dauern, macht der Sprecher klar. Fachgesprä­che in Pfronten seien aber bereits terminiert. Wann sie stattfinde­n? „Demnächst.“

 ?? Fotos: Benedikt Siegert ?? Das ist der unbeschran­kte Bahnüberga­ng, der den Menschen in Pfronten im Ostallgäu seit vielen Jahren Sorgen bereitet. Sie fordern, dass jetzt endlich Konsequenz­en aus den Unfällen gezogen werden.
Fotos: Benedikt Siegert Das ist der unbeschran­kte Bahnüberga­ng, der den Menschen in Pfronten im Ostallgäu seit vielen Jahren Sorgen bereitet. Sie fordern, dass jetzt endlich Konsequenz­en aus den Unfällen gezogen werden.
 ??  ?? 21. Januar: Eine Regionalba­hn erfasst den Wagen eines 47-jährigen Mannes. Er ist der vierte Tote an diesem Bahnüberga­ng in den vergangene­n 20 Jahren.
21. Januar: Eine Regionalba­hn erfasst den Wagen eines 47-jährigen Mannes. Er ist der vierte Tote an diesem Bahnüberga­ng in den vergangene­n 20 Jahren.
 ??  ?? Vom Küchenfens­ter aus sieht sie den Bahnüberga­ng: Renate Käsbach.
Vom Küchenfens­ter aus sieht sie den Bahnüberga­ng: Renate Käsbach.
 ??  ?? „Es herrscht Angst“: Anwohner Manfred Wünsch.
„Es herrscht Angst“: Anwohner Manfred Wünsch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany