Nicht im Lot Ferdinand von Schirach Ein Autor wird sehr persönlich
Es war sein erster und einziger Vollrausch. Und: Er rettete ihm das Leben. Ferdinand von Schirach war 15, als er sich mit Whiskey volllaufen ließ und umbringen wollte. Doch er war nicht mehr fähig, den Lauf der Schrotflinte umzuknicken, und hatte noch dazu die Patronen vergessen. Mit dieser – in der distanzierten Er-Form vorgetragenen – autobiografischen Geschichte eröffnet der Autor und langjährige Strafverteidiger seinen Erzählband „Kaffee und Zigaretten“.
Der Teenager von einst wuchs in einem großbürgerlichen Haushalt auf, umgeben von Hausmädchen, Köchinnen, Fahrern, Gärtnern und Förstern, von Tennisplatz und Seerosenteich. Warum wollte er sich erschießen? „Es war zu viel geworden“, sagt er in einem Interview. In seiner düsteren, den Band grundierenden Selbstbeschreibung spricht er vom „Dunklen“im Menschen, von seinen Depressionen: „Die Tür zum Badezimmer schließt sich, er ist allein. Von der Decke beginnt Öl auf seine Stirn zu tropfen, es rinnt in Schlieren die Kalkwände herunter, überzieht den Holzboden, das Bett, die Laken, alles wird glatt und verliert seine Struktur. Das Zimmer läuft voll, das Öl schwappt in sein Gesicht...Er atmet es ein, wird taub, und dann ist er selbst das blauschwarze Öl.“
Das ist im neuen Band eine der eindringlichsten Passagen, eine literarische Trouvaille in all den Schilderungen, Beobachtungen, Begegnungen. Sechs der 48 Abschnitte sind vorab erschienen und wurden für das Buch überarbeitet.
Vielleicht muss man die Fans des Autors warnen, die sich von den Fall- und Kriminalgeschichten in Ferdinand von Schirachs Büchern wie „Verbrechen“(2009), „Schuld“(2010) und „Strafe“(2018) mitreißen ließen. In ihnen schleuste der Autor die große Unbekannte ins Menschenleben, zersetzte mit pointierter Wucht die Differenz von Grund und Abgrund, von Gut und Böse. Der von Ferdinand von Schirach bewunderte Künstler Anselm Kiefer rühmt die „kristalline Kälte“dieser Texte.
Das ist in „Kaffee und Zigaretten“anders, persönlicher, moderierter, beiläufiger, bildungsbeflissener (in der Zitierung von Geistesgrößen), bescheidener im Aufklärungsimpetus. Zum Teil beruhigen sich die Geschichten in moralischen Gemeinnützigkeiten: „Niemand kann sich selbst kennen“; „… kann es nie Gewissheit geben. Indem man etwas betrachtet, verändert man es“; „Hass ist die furchtbarste, die einfältigste und die gefährlichste Haltung zur Welt.“
(Historische) Mordfälle sind auch diesmal aufgeführt. Der Blick fällt in Ehehöllen, auf reiche Mandanten, die Tragik einer japanischen Klavierstudentin und jenen absonderlichen Herrn, der sich Tat für Tag eine halbe Stunde vor das Schaufenster eines Friseurgeschäfts stellt.
Es geht im Weiteren um jugendbewegte Jahre in Paris, eine groteske Modenschau, um die RaucherFraktion (von Belmondo bis Helmut Schmidt und den Autor), um kuriose Begegnungen mit Nobelpreisträger Imre Kertész, dem Romancier und Tennisexperten Lars Gustafsson, mit dem geldwedelnden Mick Jagger im Kino, vor allem aber den Filmen des Ausnahme-Regisseurs Michael Haneke: Kunst, sagt von Schirach, „muss kompromisslos sein, und ich kenne keinen anderen Künstler, der weniger Kompromisse macht“.
Ferdinand von Schirach, Jahrgang 1964, ist ein sympathischer Autor. Er desavouiert nicht. Er ist auf Such- und Pendelbewegungen aus in einer Menschenwelt, von der er weiß, dass sie schwerlich ins Lot zu bringen ist. Günter Ott