War der Lübcke-Attentäter Teil eines Terrornetzwerks?
Der Verdächtige Stephan E. soll Kontakte zur Neonazigruppe „Combat 18“gehabt haben, eine Umschreibung für „Kampfgruppe Adolf Hitler“. Bis heute ist der Zusammenhang der Kassler Neonazi-Szene mit dem NSU-Terror ungeklärt
Kassel Eine große leuchtrote Holzplatte versperrt den Eingang in das Einfamilienhaus im Kasseler Osten, in dem Stefan E. mit Frau und Kindern unauffällig wohnte. Die eigentliche Haustüre wurde zerstört, als in der Nacht zum Samstag ein Spezialeinsatzkommando das Haus stürmte und den 45-Jährigen unter dem dringenden Verdacht festnahm, zwei Wochen zuvor den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet zu haben. Nicht nur weil der CDU-Politiker in Manier des NSU-Terrortrios aus nächster Nähe erschossen wurde, fragen sich die Ermittler, ob der vorbestrafte Neonazi Teil eines terroristischen Netzwerks sein könnte.
Ein Zeuge hatte bereits vor der Festnahme ausgesagt, dass in der Tatnacht zwei Autos in „aggressiver Manier“durch den Wohnort Lübckes bei Kassel gefahren seien. Eines beschrieb der Zeuge wie den VWFamilienvan, der auf E.s Frau zugelassen ist, wie die Süddeutsche Zeitung aus Ermittlerkreisen berichtet.
Nicht nur die Zeugenaussage wirft die Frage nach einem Terrornetzwerk auf, sondern vor allem die Vergangenheit des wegen ausländerfeindlichen und rechtsradikalen Gewalttaten vorbestraften Verdächtigen. E. wurde 2016 im hessischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der NSU-Verbrechen als Beispiel für die gewalttätige Neonazi-Szene erwähnt. Er soll zudem Kontakt zu den gewalttätigen Gruppen „Sturm18“und „Combat18“ gehabt haben. Die „18“steht nach alter Neonazi-Methode für die Initialen Adolf Hitlers als Nummern im Alphabet. „Combat 18“heißt so viel wie „Kampfgruppe Adolf Hitler“und versteht sich selbst als der militante oder bewaffnete Arm des europaweiten rechtsextremen Netzwerks „Blood and Honour“: „Blut und Ehre“war die in die Gürtelschnallen geprägte Parole der Hitlerjugend.
„Combat 18 ist auf jeden Fall ein verfassungsfeindliches Netzwerk, das Hass verbreitet“, sagt der Augsburger CSU-Abgeordnete Volker Ullrich, der Mitglied im zweiten Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der NSU-Verbrechen und Behördenskandale war.
„Man hat im zweiten NSUUntersuchungsausschuss nicht mit Sicherheit nachweisen können, dass direkte Verbindungen des NSU mit Combat 18 oder Blood and Honour tatsächlich existiert haben, aber es wurde deutlich, dass ein umfassendes ideologisches rechtsextremes Netzwerk das Trio radikalisiert hat“, sagt Ullrich. Auffällig und ungeklärt ist bis heute, „dass die NSUMorde von Kassel und Dortmund in zeitlicher Nähe zu Treffen von Combat 18 und rechtsextremen Konzerten stattgefunden haben“, fügt der CSU-Abgeordnete hinzu.
In Kassel, wo Stephan E. schon zur damaligen Zeit lebte, ermordete der NSU 2006 in einem Internetcafé den 21-jährigen Halit Yozgat durch zwei Kopfschüsse. Wie bei anderen Morden des NSU-Trios ist bis heute die Frage offen, ob die Täter bei der Auswahl der Opfer und der Tatorte Helfer vor Ort hatten. Ebenso mysteriös ist der Umstand, dass zur Tatzeit ein Verfassungsschutzmitarbeiter am Tatort war, der von dem Mord nichts mitbekommen haben will: „Ich wünsche mir, dass jetzt die in Hessen gesperrten Akten freigeben werden, vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Opfer um den Kasseler Regierungspräsidenten handelt und in Kassel Halit Yozgat 2006 vom NSU ermordet wurde“, sagt Ullrich.
„Vor diesem Hintergrund verbiete sich eine weitere geheime Einstufung dieser Akten“, betont er. „Dass der damalige Verfassungsschutzmitarbeiter zur Tatzeit des Mordes an Halit Yozgat im Internetcafé war, kann Zufall gewesen sein oder auch nicht“, fügt Ullrich hinzu. „Ich verstehe nicht, warum das Land die Akten in Hessen für 120 Jahre als Verschlusssache eingestuft hat.“
Für die Theorie, dass der NSU bei der Wahl der Tatorte Helfer hatte, gebe es Argumente dafür und dagegen, sagte der NSU-Experte und Mainzer Professor Tanjev Schulz. „Manche Tatorte waren seltsam abgelegen“, zudem wisse man von Helfern, die das Trio beim Leben im Untergrund unterstützten. „Aber es spricht auch viel für die These, dass sich die Terrorzelle innerhalb der rechtsextremen Szene aus Furcht vor Verrat sehr abgeschottet und vorsichtig agiert hat“, betont Schulz. Der Mord an Walter Lübcke und der Verdacht gegen Stefan E. müsse nun Anlass sein, alles um das Geflecht der Neonazi-Szene in Kassel und anderen Tatorten zur Zeit der NSU-Morde „noch einmal aufzurollen und alle möglichen Bekanntschaften zu prüfen“, fordert Experte Schulz.