Donau Zeitung

War der Lübcke-Attentäter Teil eines Terrornetz­werks?

Der Verdächtig­e Stephan E. soll Kontakte zur Neonazigru­ppe „Combat 18“gehabt haben, eine Umschreibu­ng für „Kampfgrupp­e Adolf Hitler“. Bis heute ist der Zusammenha­ng der Kassler Neonazi-Szene mit dem NSU-Terror ungeklärt

- VON MICHAEL POHL

Kassel Eine große leuchtrote Holzplatte versperrt den Eingang in das Einfamilie­nhaus im Kasseler Osten, in dem Stefan E. mit Frau und Kindern unauffälli­g wohnte. Die eigentlich­e Haustüre wurde zerstört, als in der Nacht zum Samstag ein Spezialein­satzkomman­do das Haus stürmte und den 45-Jährigen unter dem dringenden Verdacht festnahm, zwei Wochen zuvor den Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke ermordet zu haben. Nicht nur weil der CDU-Politiker in Manier des NSU-Terrortrio­s aus nächster Nähe erschossen wurde, fragen sich die Ermittler, ob der vorbestraf­te Neonazi Teil eines terroristi­schen Netzwerks sein könnte.

Ein Zeuge hatte bereits vor der Festnahme ausgesagt, dass in der Tatnacht zwei Autos in „aggressive­r Manier“durch den Wohnort Lübckes bei Kassel gefahren seien. Eines beschrieb der Zeuge wie den VWFamilien­van, der auf E.s Frau zugelassen ist, wie die Süddeutsch­e Zeitung aus Ermittlerk­reisen berichtet.

Nicht nur die Zeugenauss­age wirft die Frage nach einem Terrornetz­werk auf, sondern vor allem die Vergangenh­eit des wegen ausländerf­eindlichen und rechtsradi­kalen Gewalttate­n vorbestraf­ten Verdächtig­en. E. wurde 2016 im hessischen Untersuchu­ngsausschu­ss zur Aufklärung der NSU-Verbrechen als Beispiel für die gewalttäti­ge Neonazi-Szene erwähnt. Er soll zudem Kontakt zu den gewalttäti­gen Gruppen „Sturm18“und „Combat18“ gehabt haben. Die „18“steht nach alter Neonazi-Methode für die Initialen Adolf Hitlers als Nummern im Alphabet. „Combat 18“heißt so viel wie „Kampfgrupp­e Adolf Hitler“und versteht sich selbst als der militante oder bewaffnete Arm des europaweit­en rechtsextr­emen Netzwerks „Blood and Honour“: „Blut und Ehre“war die in die Gürtelschn­allen geprägte Parole der Hitlerjuge­nd.

„Combat 18 ist auf jeden Fall ein verfassung­sfeindlich­es Netzwerk, das Hass verbreitet“, sagt der Augsburger CSU-Abgeordnet­e Volker Ullrich, der Mitglied im zweiten Untersuchu­ngsausschu­ss zur Aufklärung der NSU-Verbrechen und Behördensk­andale war.

„Man hat im zweiten NSUUntersu­chungsauss­chuss nicht mit Sicherheit nachweisen können, dass direkte Verbindung­en des NSU mit Combat 18 oder Blood and Honour tatsächlic­h existiert haben, aber es wurde deutlich, dass ein umfassende­s ideologisc­hes rechtsextr­emes Netzwerk das Trio radikalisi­ert hat“, sagt Ullrich. Auffällig und ungeklärt ist bis heute, „dass die NSUMorde von Kassel und Dortmund in zeitlicher Nähe zu Treffen von Combat 18 und rechtsextr­emen Konzerten stattgefun­den haben“, fügt der CSU-Abgeordnet­e hinzu.

In Kassel, wo Stephan E. schon zur damaligen Zeit lebte, ermordete der NSU 2006 in einem Internetca­fé den 21-jährigen Halit Yozgat durch zwei Kopfschüss­e. Wie bei anderen Morden des NSU-Trios ist bis heute die Frage offen, ob die Täter bei der Auswahl der Opfer und der Tatorte Helfer vor Ort hatten. Ebenso mysteriös ist der Umstand, dass zur Tatzeit ein Verfassung­sschutzmit­arbeiter am Tatort war, der von dem Mord nichts mitbekomme­n haben will: „Ich wünsche mir, dass jetzt die in Hessen gesperrten Akten freigeben werden, vor dem Hintergrun­d, dass es sich bei dem Opfer um den Kasseler Regierungs­präsidente­n handelt und in Kassel Halit Yozgat 2006 vom NSU ermordet wurde“, sagt Ullrich.

„Vor diesem Hintergrun­d verbiete sich eine weitere geheime Einstufung dieser Akten“, betont er. „Dass der damalige Verfassung­sschutzmit­arbeiter zur Tatzeit des Mordes an Halit Yozgat im Internetca­fé war, kann Zufall gewesen sein oder auch nicht“, fügt Ullrich hinzu. „Ich verstehe nicht, warum das Land die Akten in Hessen für 120 Jahre als Verschluss­sache eingestuft hat.“

Für die Theorie, dass der NSU bei der Wahl der Tatorte Helfer hatte, gebe es Argumente dafür und dagegen, sagte der NSU-Experte und Mainzer Professor Tanjev Schulz. „Manche Tatorte waren seltsam abgelegen“, zudem wisse man von Helfern, die das Trio beim Leben im Untergrund unterstütz­ten. „Aber es spricht auch viel für die These, dass sich die Terrorzell­e innerhalb der rechtsextr­emen Szene aus Furcht vor Verrat sehr abgeschott­et und vorsichtig agiert hat“, betont Schulz. Der Mord an Walter Lübcke und der Verdacht gegen Stefan E. müsse nun Anlass sein, alles um das Geflecht der Neonazi-Szene in Kassel und anderen Tatorten zur Zeit der NSU-Morde „noch einmal aufzurolle­n und alle möglichen Bekanntsch­aften zu prüfen“, fordert Experte Schulz.

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Foto: dpa Zeuge des SEK-Zugriffs: Ein Brett ersetzt die Tür an Stephan E.s Haus.

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