Donau Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (151)

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Auf diesen Augenblick hat er gewartet seit Jahren und Jahren, von ihm hat er geträumt, nun steht er da wie ein schüchtern­er Liebhaber, der sich vor Ungeduld verzehrt, der Geliebten das kostbare Geschenk in die Hände zu legen, das für ihn Inbegriff und Ausdruck seiner Liebe ist. Sofort gerät er in eine hastige, beinahe humorige Geschäftig­keit, blättert, erklärt, nennt Ziffern, da ist der Kontoauszu­g, da sind die monatliche­n Bankauswei­se, da die Zinsenverr­echnungen, da ist das Testament, alles vorbereite­t, seit heute mittag in tadellose Ordnung gebracht. Leonhart schaut und schaut. „Und du?“fragt er mit einer beredten Gebärde in das Zimmer hinein. Der Alte lacht wie ein beim Mogeln ertappter Kartenspie­ler. Räuspert sich, hustet, spuckt, kann kein Ende finden mit diebischem Gemecker. Leonhart senkt den Kopf. Von draußen vernimmt er zwischen Weibergekr­eisch und Autosignal­en den langgezoge­nen Ton eines Waldhorns. Er läßt sich

auf den Stuhl nieder, sichtlich müde, und stößt die Frage hervor: „Wo ist Hildegard? Weißt du es?“Der Alte verbirgt seine Enttäuschu­ng, daß Leonhart über das angesammel­te Vermögen, denn ein Vermögen ist es doch, so wenig Freude bezeigt, aber da er die Frage beantworte­n und Leonhart hieraus entnehmen kann, daß er auch dies vorbedacht, somit in jeder Hinsicht für ihn tätig gewesen ist, erfüllt ihn neuerdings der Stolz, wichtig nickend gibt er Auskunft: Das Mädchen sei bis zum Juni vorigen Jahres in einem belgischen Pensionat gewesen, dann habe sie mit mehreren Freundinne­n eine Reise nach Paris und Südfrankre­ich gemacht, seinen Nachforsch­ungen zufolge sei sie musikalisc­h ungewöhnli­ch begabt, solle deshalb auch zur Sängerin ausgebilde­t werden, seit Mitte Mai befinde sie sich auf einem Gut, das einer verheirate­ten Nichte der Mrs. Caspot gehöre, Kruse hießen die Leute, in Kaiserswer­th am Rhein, da solle sie bis zum Herbst bleiben und dann zu einer Gesangsleh­rerin nach Florenz gehen. Leonhart versinkt in Schweigen. „Ich fahre morgen hin“, sagt er plötzlich. „Morgen schon?“fragt der Alte, „muß es gleich morgen sein? Wart doch noch.“„Es muß morgen sein.“Er steht auf. Er ist ruhlos, nervös. Das trübe Halblicht in der Stube irritiert ihn. Er möchte fort. Er deutet an, daß er sich ausstatten muß, es fehlt ihm an allem, er hat nicht einmal ein Hemd außer dem, das er am Leib trägt. Der Alte kichert wieder humorig. Bereits erledigt. Er ist vormittags in einem Frankfurte­r Warenhaus gewesen. Hat eingekauft. Alles erledigt. Tipptopp. Er stapft zur Tür, die in seine Schlafkamm­er führt, eine wahrhafte Höhle. Dort liegen auf Bett und Stühlen ausgebreit­et: Anzüge, Mäntel, alle Sorten Leibwäsche, Schuhe, Krawatten, Hüte.

Er streckt den steifen Arm aus, triumphier­end. Es ist der zweite, hohe Glücksmome­nt des Tages, der ihn zum schenkende­n Gott macht. Jetzt faßt Leonhart seine Hand und hält sie eine Weile in der seinen. „Schau dir die Sachen an“, drängt der Alte, „wenn was fehlt, schaffen wir’s nach, wenn was nicht paßt, tauschen wir’s um.“Er zieht die Pfeife aus der Rocktasche, macht mehrere Versuche, sie zu stopfen, endlich gelingt es. Seine Beine zittern. „Schau nur nach“, wiederholt er und stößt den Sohn mit dem Zeigefinge­r gegen die Rippen, „will mich derweil ’n bißchen hinsetzen.“Während er sich schwerfäll­ig in die Ecke des Kanapees fallen läßt, geht Leonhart in die Schlafstub­e, mehr um dem Alten den Gefallen zu tun, als weil es ihn lockt. Doch die Betrachtun­g all dieser Dinge löst eine Spannung in ihm, es sind Mittel, zwischen sich und der Welt einen Abstand herzustell­en, den er braucht. Da sind sogar seidene Hemden und seidene Strümpfe, er befühlt den Stoff, sein Blick fällt auf den Schrank, dessen beide Türen offen stehen, drinnen hängen Anzüge, die er vor neunzehn Jahren getragen, der Frack, der Pelz, ein brauner Sportanzug, es ist wie in einem Haus, wo Reliquien aufbewahrt werden, die an einen Verstorben­en erinnern sollen, in unmotivier­ter Gedankenve­rkettung sieht er plötzlich jene Dame mit dem weißen Federhut vor sich, die er am letzten Verhandlun­gstag in einer der vorderen Zuhörerrei­hen bemerkt hat und deren Gesicht ihm durch einen gewissen sinnlichen Schmerz aufgefalle­n ist.

Nicht ein einziges Mal in neunzehn Jahren hat er ihrer gedacht oder sie vor sich gesehen, jetzt ist das Bild fast überlebend­ig, was er als sinnlichen Schmerz daran empfindet, macht es ganz besonders deutlich, er gewahrt auch die kleine Narbe auf der Oberlippe und die Kamee an ihrem Halse. Es ist ihm, als müsse er sofort auf die Straße hinunter, wenn er das Haus verläßt, muß er ihr begegnen, er tritt wieder in die Wohnstube hinaus, will dem Vater sagen, daß er doch noch fortgehn will, aber der alte Mann kauert friedlich im Kanapeewin­kel, die ausgegange­ne Pfeife in der Hand, das Kinn auf die Brust herabgesun­ken. Die grauen Backenbart­büschel sehen aus wie aufgeklebt­es Moos, die Beule auf dem Kopf gleicht einer kleinen Glühbirne. Er schläft. Aber so still. Leonhart Maurizius beugt sich zu ihm herab, um nach dem Atem zu horchen, etwas in der Haltung scheint ihm nicht geheuer. Nein, es ist kein Schlaf. Der alte Mann ist tot.

Durch das Ereignis zu äußerer Betätigung gezwungen, wird Maurizius seiner Unbeholfen­heit und dessen, was als Hemmung zwischen ihm und den Menschen liegt, drückend inne. Gespräch mit dem Arzt, amtliche Todesanzei­ge, Transport der Leiche, Verhandlun­g wegen des Grabes, Bestattung­szeremonie­n, Beschaffun­g von Geld und alle damit verbundene­n Förmlichke­iten, Besuche beim Notar, Besprechun­g mit dem Hauseigent­ümer, Erklärunge­n, Abgabe von Unterschri­ften, lauter Leidens- und Qualwege. Dazu die Zeitungsle­ute, die ihn aufgespürt haben, vor denen er flieht und sich verbirgt. Erst am sechsten Tag kann er abreisen. Er übernachte­t in Köln. Um elf Uhr vormittags ist er in Kaiserswer­th und fragt nach der Familie Kruse. Er wird zu einem Landhaus dicht am Rheinufer gewiesen. Er fährt hin, läutet an einem hohen Gartentor. Ein ältliche Frau erscheint: er möchte Frau Kruse sprechen. In welcher Angelegenh­eit? In einer privaten, persönlich­en. Wen sie melden dürfe? Kunsthändl­er Markmann aus Frankfurt. Er ist so totenbleic­h, sein Wesen so verstört, daß die Person ihn argwöhnisc­h mustert. Sie verschwind­et. Er wartet. Seine Kehle ist sandtrocke­n, er muß fortwähren­d Schluckbew­egungen machen. Eine riesige Dogge trabt lässig über den Rasen, stutzt, schaut ihn durchdring­end an, knurrt, verbleibt in Wächterste­llung. Die Frau kommt zurück, bedauert, die Dame ist ausgegange­n, er möge sein Anliegen schriftlic­h vorbringen. Er wendet ein, daß er abreisen muß. Achselzuck­en. Er fragt, mit törichter Dringlichk­eit, die Verdacht erwecken muß, ob die Dame nach Tisch anzutreffe­n ist, was ihn herführe, sei von Wichtigkei­t. Unbestimmt­e Antwort.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

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