Wie Kinder Radfahren lernen
Seit das Laufrad so populär geworden ist, fällt Kindern der Übergang auf das erste Fahrrad leichter. Und er geschieht früh. Das bringt neue Herausforderungen mit sich
Göttingen Mit dem Fahrradfahren ist es wie mit dem Schwimmen. Gelernt ist gelernt, auch wenn man für Jahre nicht im Sattel war, man kann es noch. Aber wie lernen Kinder es? Der Zeitpunkt: Ein festes Alter, in dem Kinder das Radfahren lernen sollten, gibt es nicht. „Der richtige Zeitpunkt hängt von der individuellen Entwicklung des Kindes ab“, sagt Heiner Sothmann von der Deutschen Verkehrswacht. Wichtig ist, ob Körperbeherrschung und Reaktionsfähigkeit schon stimmen. In der Regel können Eltern davon ausgehen, dass der Nachwuchs ab rund zwei oder drei Jahren das notwendige Balancieren erlernen kann – und ab diesem Zeitpunkt dem Kind ein Laufrad anbieten. „Sobald das Kind längere Passagen mit den Füßen auf dem Trittbrett rollt, kann man über den Umstieg auf ein kleines Kinderfahrrad nachdenken“, sagt Sothmann. Wenn die Eltern selbst Fahrrad fahren oder andere Kinder mit dem Laufrad umherrollen, komme der Wunsch beim eigenen Nachwuchs ganz von allein, sagt Thomas Geisler vom Pressedienst Fahrrad.
Nach Einschätzung von Christopher Spering lernen Kinder das Gleichgewichthalten immer früher. Hintergrund sei der Trend zum Laufrad in den vergangenen Jahren, so der Experte der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Damit sind Kinder auch früher auf dem Fahrrad.
● Welches Fahrrad? Das Rad sollte in einer Größe gewählt werden, dass Kinder es beherrschen können – nicht umgekehrt. Dazu gehört nicht nur die sichere Fahrt, sondern auch, dass der Nachwuchs sicher wieder stoppen kann und bei langsamem Tempo nicht einfach umfällt. „Wichtig ist der sichere Stand“, sagt Sothmann. Beim Anhalten fühlen sich manche Kinder besser, wenn sie die kompletten Fußflächen aufsetzen können, anderen genüge es, die Zehenspitzen aufzusetzen.
Der Experte empfiehlt eine Kombination aus Fuß- und Handbremse: Die Rücktrittbremse entspreche wegen der entgegengesetzten Pedalbewegung der Intuition. Mit dem Hebel am Lenker können Kinder die bei Erwachsenenrädern gängige Art der Bremse schon mal kennenlernen. Praktisch ist es, wenn das Rad einen tiefen Einstieg hat. Wer das Kind an die Tretbewegung heranführen möchte, könne es alternativ zum Laufrad auf ein Dreirad setzen, empfiehlt Geißler. „So gewöhnt sich das Kind schon mal ans Pedalieren.“
● Anschubsen? Eltern sollten grundsätzlich auf die Signale des Kindes achten und nichts erzwingen. Stattdessen sind stets Aufmerksamkeit und viel Geduld gefragt, um die Lernfortschritte Stück für Stück zu begleiten. Diese Haltung ist laut Sothmann wichtiger, als dem Kind konkrete Vorgaben zu machen. Auch von Anschieben hält er nicht viel, allenfalls kurzes Anschubsen sei zweckmäßig: „Das Kind soll ja allein in Bewegung kommen.“Auf diese Weise gewinne es Selbstvertrauen, werde sicherer.
Nicht vergessen sollten Eltern laut Spering ihre Vorbildfunktion im Verkehr: Wenn sie sich rücksichtsvoll gegenüber anderen verhalten, statt cholerisch zu reagieren, werden Kinder eher zu besonnenen, selbstsicheren Radlern.
● Stützräder? Experten raten grundsätzlich von Stützrädern ab. Geisler hält sie sogar für kontraproduktiv: Das Radfahren könne wieder verlernt werden, weil sich Kinder auf die Stützfunktion verlassen. Womöglich müsse das Kind das Balancieren erneut erlernen. „Stützräder wiegen das Kind in falscher Sicherheit“, erläutert Spering. Gleiches gelte für Schutzkleidung wie Protektoren an Knie oder Ellenbogen. „Kinder brauchen die Chance, wahrnehmen zu können, dass man sich verletzen kann – kleinere Schürfverletzung haben da gar nicht einen so negativen Lerneffekt.“Sie müssten lernen, sich bei Stürzen richtig abzufangen.
Sothmann ergänzt, dass Knieschoner oder Handgelenkschützer zudem eher einschränkten – beim Festhalten am Lenker, dem Bedienen der Handbremse. „Ein langärmeliges Oberteil und lange Hosen genügen.“Wichtiger sei, dass der Untergrund möglichst frei von Schotter oder gar Scherben sei, um größeren Verletzungen als einer Schürfwunde vorzubeugen.
● Ein Helm? Gesetzlich nicht vorgeschrieben, wird er von den meisten Fahrradexperten aber empfohlen. Diese Empfehlung spricht Spering gerade für den ganz jungen Radlernachwuchs aus, der einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt sei, wenn es zum Unfall kommt. „Weil das Gehirn mit dem Alter wieder schrumpft, hat das kindliche Gehirn im Vergleich viel mehr Masse als das eines Erwachsenen“, sagt Spering. Deshalb habe das Gehirn von Kindern unter der Schädeldecke weniger Platz zu schwellen. Bei gleicher Aufprallenergie komme es beim Nachwuchs schneller zu Gehirnerschütterungen. „Der Helm beim Kind in der Lernphase ist deshalb ein absolutes Muss“, sagt Spering. Idealerweise schütze er auch die Schläfen, die aufgrund der bei Stürzen oft instinktiven Drehbewegung besonders gefährdet seien.
● Wo üben? Sothmann nennt den optimalen Ort den „Schonraum“. Gemeint sind Orte, wo kein oder nur sehr sporadischer Verkehr stört oder gefährlich werden kann: „Das können Einfahrten sein, ein Innenhof, ein leerer Parkplatz oder der asphaltierte Feldweg.“Um sich dem Wesentlichen widmen zu können, sollte möglichst wenig Ablenkung bestehen. Der Untergrund, auf dem die ersten Übungen stattfinden, sollte möglichst glatt sein, am besten asphaltiert oder eben gepflastert.
„Wichtig ist, dass das Kind das Gefühl hat, genug Raum zu haben – um auch mal schneller oder größere Kreise zu fahren.“Fehlt es an einem geeigneten Ort, können in Städten nach Absprache oft auch Jugendverkehrsschulen oder Verkehrsübungsplätze genutzt werden.
Hat das Kind Selbstvertrauen und Sicherheit gewonnen, spricht nichts mehr gegen erste kurze Touren auf dem Gehweg. Laut Straßenverkehrsordnung darf eine mindestens 16 Jahre alte Begleitperson den Nachwuchs auf dem Gehweg begleiten.