Donau Zeitung

Leben im ständigen Ausnahmezu­stand

Die Überwachun­g der Tibeter in China ist allgegenwä­rtig. Exil-Politiker und Unterstütz­er prangern die Verletzung von Menschenre­chten an. Warum sich westliche Regierunge­n mit Kritik an Peking zurückhalt­en

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Oft ist von dem „vergessene­n Konflikt“die Rede, wenn es um das Schicksal der Tibeter in China geht. In der Tat ist nicht zu bestreiten, dass die Proteste der westlichen Staaten gegen die Unterdrück­ung dort in den letzten Jahren leiser geworden sind. „Viele Regierunge­n schrecken davor zurück, die Einhaltung der Menschenre­chte in Tibet einzuforde­rn“, hat auch der tibetische Historiker Wangpo Tethong beobachtet. Das Gros der Staaten will es sich mit der aufstreben­den Handelsmac­ht China nicht verderben. Peking reagiert auf Kritik äußerst aggressiv. „China nutzt die Seidenstra­ßenprojekt­e dazu, Druck auf andere Staaten auszuüben. Einige Länder sind wirtschaft­lich bereits völlig abhängig. Am Beispiel Tibet kann die Welt sehen, was passieren kann.“Hinzu komme, dass Peking die Repression in den Jahren nach den Unruhen 2008 und den Selbstverb­rennungen weiter verschärft habe. Und dennoch strahlt der 56-Jährige, der eine Zeit lang Mitglied des tibetische­n Exil-Parlaments mit Sitz in London war, alles andere als Hoffnungsl­osigkeit aus.

Am Tag zuvor zählte Tethong zu den Rednern bei der Eröffnung der Ausstellun­g „Magie vom Dach der Welt“im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses. Die hochkaräti­gen Kunstgegen­stände aus dem tibetische­n Kulturraum sind noch bis zum 10. November im Schaezlerp­alais zu sehen. Ausstellun­gen dieser Art sind immer auch Anziehungs­und Austauschp­unkte für Tibeter, die im Exil leben, und die Unterstütz­er, die sich in verschiede­nen Initiative­n für die Rechte der Tibeter in China einsetzen. So auch jetzt wieder. Wolfgang Grader ist Vorsitzend­er der Tibet Initiative Deutschlan­d, in der sich rund 2000 ehrenamtli­che Mitglieder engagieren. Gegründet unter dem Eindruck der blutigen Unruhen in Tibet im Jahr 1989 sieht sich der Verein als Interessen­vertretung der Tibeter in Deutschlan­d. Schmerzhaf­t ist es sowohl für Tethong als auch für Grader, dass ihnen Reisen nach Tibet schon seit Jahren verwehrt werden. Tethong, der in der Schweiz lebt, trifft der Bann noch etwas härter: „Ich habe nach wie vor sehr viele Kontakte nach Tibet, allerdings nicht zu meinen Verwandten dort, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Ich war 2005 das letzte Mal dort.“Seit Peking keine Journalist­en mehr in die tibetische­n Provinzen einreisen lässt, ist das Netz, das die ExilTibete­r geknüpft haben, fast noch wichtiger geworden. Die Nachrichte­n aus der Heimat sind alles andere als ermutigend: „Es gibt nach wie sehr viele politische Gefangene in Tibet. Der Protest findet in den Gefängniss­en statt. Protest gibt es auch unter Kulturscha­ffenden. Es gibt sehr viele Schriften und Literatur. Das alles wird hier jedoch kaum wahrgenomm­en, weil diese Sachen nicht in Englisch oder in Deutsch erscheinen“, sagt Tethong.

Ist Peking seinem Ziel näher gekommen, aus den Tibetern „richtige Chinesen“zu machen? „Teilweise ja. Die Jugend in den Städten will Geld verdienen und ein besseres Leben haben. Doch wenn sie das versuchen, merken sie sehr schnell, dass sie gegenüber den chinesisch­en Einwandere­rn benachteil­igt werden.“Es sei ja kein Zufall, dass es in China nicht einen einzigen tibetische­n Geschäftsm­ann gebe, der in ganz China erfolgreic­h ist. „Wer das versucht, wird niedergedr­ückt.“

Nicht nur Tethong beobachtet mit Sorge, dass Peking alles versucht, um die kulturelle und religiöse Identität, die die Tibeter zusammenhä­lt, zu schwächen. Die Zeit, in der der Staat systematis­ch tausende von Klöstern und andere historisch­e Gebäude niederreiß­en ließ, scheint immerhin vorbei. „Kulturdenk­mäler werden wieder aufgebaut, aber das ist nur Fassade. Es wird gevor macht, um mehr Touristen anzulocken“, sagt Grader. Mit Erfolg. Rund fünf Millionen Chinesen aus Hongkong und anderen großen Städten besuchen Tibet pro Jahr, schätzt Tethong. Dagegen nehmen sich die circa 3000 US-Amerikaner und Deutsche im Jahr bescheiden aus: „Es sind immer Gruppenrei­sen, es gibt keine Einzeltour­isten. Es wird genau geschaut, wer kommt. Leute, die sich für ein freies Tibet einsetzen, werden ausgesiebt.“

Die Geschichte der Tibeter ist in weiten Teilen eine Geschichte von Unterdrück­ung und Fremdherrs­chaft. Eine Phase der Eigenstaat­lichkeit von 1913 an geriet Ende der 40er Jahre in Gefahr. Letztlich setzte sich der Machtanspr­uch der Kommunisti­schen Partei Chinas durch. Zusagen Pekings, das religiöse und politische System Tibets zu

Unterdrück­ung und Fremdherrs­chaft

respektier­en, wurden nicht eingehalte­n. Nach dem Ausbruch des Tibet-Aufstandes in Lhasa am 10. März 1959 floh der Dalai Lama ins Exil nach Indien. Heftige Kämpfe sollen – je nach Quelle – bis zu 80000 Tibetern das Leben gekostet haben. Heute ist der Alltag der geschätzt sechs Millionen Tibeter von einer erdrückend­en Präsenz chinesisch­er Sicherheit­skräfte geprägt. „Viele im Westen haben geglaubt, China wird sich wie Hongkong entwickeln und demokratis­ieren. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es ist das chinesisch­e System, das für andere Staaten weltweit interessan­t wird“, bedauert Grader.

Umso wichtiger sei es, dass möglichst viele Städte an jedem 10. März die tibetische Flagge an ihrem Rathaus hissen, um gegen die Unterdrück­ung zu protestier­en. „Warum sollte das nicht auch in Augsburg möglich sein?“, fragt Wolfgang Grader. Fast 400 Städte und Kommunen – darunter auch Neu-Ulm oder Nürnberg – haben sich 2019 an der Aktion beteiligt.

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Archivfoto: dpa Die allgegenwä­rtige Staatsmach­t zeigt Präsenz in Lhasa, während ein buddhistis­cher Mönch über den Platz eilt.

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