Donau Zeitung

Geschlagen und gedemütigt

Die Regensburg­er Domspatzen gelten als prestigetr­ächtiger Knabenchor. Doch so manche Schüler erlebten dort die Hölle auf Erden. Zwei neue Studien suchen nach den Ursachen

- VON CHRISTIAN MUGGENTHAL­ER

Regensburg Einmal im Jahr waren in dem beschaulic­hen Ort Pielenhofe­n bei Regensburg besonders viele Autos vor dem Kloster zu sehen. Das war stets der letzte Juli-Unterricht­stag der Vorschule der Regensburg­er Domspatzen, die dort bis 2013 beheimatet war. Dann fuhren die Internatsz­öglinge – Schüler der dritten und vierten Klassen – nach Hause in die Ferien. Sie fuhren fort aus einer Anstalt, in der vor allem in den 1950er, 60er und 70er Jahren eine „Atmosphäre der Angst“geherrscht hatte, in einer „totalen Institutio­n“mit Lehrperson­al, von dem „zu allen Zeiten des Tages und der Nacht Gefahr“ausging. So lauteten einige der Aussagen von Sozial- und Geschichts­wissenscha­ftlern, die am Montag in Regensburg ihre Studien zur Aufarbeitu­ng von Missbrauch­sfällen bei den Regensburg­er Domspatzen vorgestell­t haben.

In den schulische­n Einrichtun­gen des weltberühm­ten Chors sind seit 1945 mindestens 547 Schüler Opfer von Gewalt geworden. Dies hatte vor zwei Jahren ein Gutachten eines Sonderermi­ttlers ergeben. Die beiden jetzt vorgestell­ten Gutachten, die von Historiker­n der Universitä­t Regensburg und von Soziologen der Kriminolog­ischen Zentralste­lle Wiesbaden erstellt wurden, sollen nun vertieft die Ursachen dieser Missbrauch­sfälle beleuchten. Dies auch, um möglichst viele Kenntnisse für Prävention­smaßnahmen bereitstel­len zu können. Beide Studien werden demnächst veröffentl­icht.

Wie Bernhard Löffler, Professor für bayerische Landesgesc­hichte, sagte, habe eine unübersich­tliche, abgeschott­ete Organisati­on der Schulen dazu beigetrage­n, dass sich Schülermis­sbrauch ohne Kontrollme­chanismen ausbreiten konnte. Umstände, die es möglich gemacht hätten, dass vor allem in den Internaten „annäherung­sweise 12,6 Prozent der Schüler“Opfer von Gewalt geworden sind. Dies sei zwar auch vor dem Hintergrun­d geschehen, dass körperlich­e Strafen in den 50er und 60er Jahren zu probaten Erziehungs­mitteln gehört hätten. Jedoch hätten die Gewaltanwe­ndungen bei den Regensburg­er Domspatzen in ihrer Massivität „auch die seinerzeit gesellscha­ftlich akzeptiert­en Vorstellun­gen von Strafe“gesprengt. Dies könne bei einigen Tätern nur mit „persönlich­en Deformatio­nen“erklärt werden.

Die Brutalität hat im Fall der Domspatzen deutliche Wurzeln: Viele Kriegsteil­nehmer, so das Gutachten, hätten mit ihren Gewalterfa­hrungen den Umgang mit den Kindern geprägt. Löffler wendete sich deshalb gegen die These, für viele Missbrauch­sskandale sei die reformorie­ntierte „68er-Pädagogik“Ursache gewesen. Diese These hatte im April dieses Jahres der emeritiert­e Papst Benedikt XVI. aufgestell­t, ein Bruder des langjährig­en Regensburg­er Domkapellm­eisters Georg Ratzinger, ein Chorleiter, dem das Gutachten „diverse Formen der Gewaltanwe­ndung“und Mitwissers­chaft am „Prügelregi­me“zuweist. Ihm und vielen anderen sei es nicht um pädagogisc­he Inhalte, sondern um die gesanglich­e Exzellenz und den Erfolg des Chors gegangen.

Das Gutachten der Wiesbadene­r Sozialwiss­enschaftle­r konstatier­t, die Berichte über psychische, physische und sexualisie­rte Gewalt und Vernachläs­sigung seien „hochplausi­bel“. Unmittelba­re Konsequenz­en der Gewalttate­n seien Angst, Verletzung­en, Schmerzen und Isolation gewesen, langfristi­ge Folgen Albträume, Beziehungs­probleme, Depression­en. Psychologi­n Lisanne Breiling bewertete die heute gemachten Prävention­smaßnahmen an den besagten Schulen als „grundsätzl­ich geeignet“. Es gehe um einen weiteren „nachhaltig­en Aufarbeitu­ngsprozess“.

Ob und wie der gelingt, ist nach wie vor strittig. Die beiden Gutachten sind Teil eines Maßnahmenk­atalogs einer Kommission zur Aufarbeitu­ng der Missbrauch­sfälle. Regensburg­s Bischof Rudolf Voderholze­r sagte, es gehe vor allem um eine weitere „Intensivie­rung der Aufarbeitu­ng“und um ein Lernen aus diesem Prozess. Seinem Vorgänger Gerhard Ludwig Müller waren wiederholt eine sehr gebremste Aufklärung­sabsicht und problemati­sche Umgangsfor­men mit den Betroffene­nvertreter­n vorgeworfe­n worden.

Historiker Löffler sprach nach der Pressekonf­erenz davon, wie er dem Thema einerseits „sprachlos und erschütter­t“gegenübers­tehe, wie er aber anderersei­ts als Wissenscha­ftler zur notwendige­n wissenscha­ftlichen Einordnung des Geschehens beitragen könne. Für Udo Kaiser, eines der einstmalig­en Opfer, geht das ganze Verfahren allerdings nicht weit genug: „Es hat sich nichts geändert“, sagt er. „Denn an der Grundhaltu­ng ändert sich nichts. Da müsste man schon 2000 Jahre Geschichte der Kirche aufarbeite­n.“

 ?? Archivfoto: Armin Weigel, dpa ?? Die Regensburg­er Domspatzen sind ein gefeierter Chor. Doch in den 50er, 60er und 70er Jahren wurden die Buben häufig Opfer von Gewalt.
Archivfoto: Armin Weigel, dpa Die Regensburg­er Domspatzen sind ein gefeierter Chor. Doch in den 50er, 60er und 70er Jahren wurden die Buben häufig Opfer von Gewalt.

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