Die EU schaut dem Sterben zu
Nach einem schweren Bootsunglück im Mittelmeer wird die Debatte um die Seenotrettung wieder lauter geführt. Doch Italien droht mit noch härteren Strafen
Brüssel Während die europäischen Staaten immer noch über die Wiederaufnahme der Seenotrettung im Mittelmeer debattieren, ist es vor der libyschen Küste „zur schwersten Tragödie“des laufenden Jahres gekommen. Dies bestätigte der Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks, Filippo Grandi, am Freitag. Ein Holzboot mit 250 Menschen war am Donnerstag gekentert. Nach Informationen der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“retteten Fischer 135 Überlebende. Augenzeugen berichteten von „mindestens“70 Leichen im Wasser. Später hieß es, 110 Menschen würden vermisst.
Der Vorfall provoziert einmal mehr die Frage, warum die EU nicht längst wieder aktiv wird. Erst vor wenigen Tagen hatte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nach einem Treffen mit Vertretern mehrerer EU-Staaten in Paris von einer „Einigung im Prinzip“gesprochen. Demnach sind 14 Länder bereit, im Rahmen eines „provisorischen Solidaritätsmechanismus“die Seenotrettung wiederaufzunehmen und die Hilfesuchenden zu verteilen. Aktiv wollen sich offenbar neben der Bundesrepublik und Frankreich Portugal, Luxemburg, Finnland, Litauen, Kroatien und Irland sowie sechs weitere EU-Mitglieder beteiligen. Diese „Koalition der Willigen“will verhindern, dass Italien und Malta weiter die Anlandung von Geretteten in ihren Häfen blockieren. Italien nahm an der Konferenz in Paris nicht teil. Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega sagte, sein Land habe „das Haupt erhoben und ist nicht länger bereit, Befehle entgegenzunehmen“. Bei einem Treffen Anfang September soll die Debatte weitergehen. Dabei wird offenbar auch überlegt, die Blockade Italiens dadurch zu umgehen, dass Schiffe mit Überlebenden andere europäische Häfen anlaufen, um die Flüchtlinge von dort aus zu verteilen.
Da derzeit auch keine privaten Rettungsaktionen laufen, sind die Menschen, die von Schleppern oft in seeuntüchtigen und überfüllten Booten von Libyen aus aufs Meer geschickt werden, hoffnungslos verloren, sollten sie kentern. Erst am kommenden Dienstag soll die „Alan Kurdi“der privaten deutschen Hilfsorganisation „Sea-Eye“wieder vor der libyschen Küste eintreffen. Die Mission dürfte allerdings riskant werden: Das Parlament in Rom ist dabei, ein umstrittenes Sicherheitsdekret in ein Gesetz zu gießen, das horrende Strafen für Hilfsorganisationen vorsieht. Wagt es ein Schiffskapitän, unerlaubt in die italienischen Hoheitsgewässer zu fahren, könnte er schon bald eine Geldstrafe von bis zu einer Million Euro riskieren. Italien und Malta wollen in den Nachbarregionen der nordafrikanischen Herkunftsländer von Flüchtlingen Einrichtungen installieren, die die Identität der Ausreisewilligen und deren Asylanspruch prüfen und die Hilfesuchenden bestimmten EU-Staaten zuweisen. Erst dann will Rom wieder seine Häfen öffnen. 2018 gab es jedoch keine nordafrikanische Regierung, die dazu bereit gewesen wäre.
Trotz der Streitigkeiten fordern die Grünen die EU zum entschlossenen Handeln auf. „Die jüngste Tragödie mit 115 vermissten Menschen vor der libyschen Küste zeigt einmal mehr, wie dringend eine staatlich finanzierte Seenotrettung im Mittelmeer gebraucht wird“, sagt Katrin Göring-Eckardt. Auf eine stärkere Zusammenarbeit mit Libyen will sich die Fraktionschefin der Grünen nicht verlassen. „Die libysche Küstenwache ist Teil des Problems und nicht der Lösung, weil sie mit kriminellen Schleppern und Schleusern kooperiert und Menschenrechte missachtet“, sagt die Grüne und fordert: „Dieser unhaltbare Zustand muss durch eine europäische Seenotrettung beendet werden.“
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, rief Italien auf, die „Behinderung und die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung“unverzüglich zu beenden. „Als Einzige retten die zivilen Seenotretter derzeit die Menschen und versuchen, diese in einen sicheren Hafen zu bringen.“Laut Statistiken sind in diesem Jahr bereits 680 Menschen im Mittelmeer bei dem Versuch ertrunken, Europa zu erreichen. Nun könnte die Zahl um 100 Opfer steigen.