Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (21)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Die Zweite, alt, runzlig, von Rauch und Schmutz geschwärzt und so häßlich, daß sie selbst in dem Hofe der Wunder Aufsehen machte, umschlich ihn wie eine Katze, betrachtet­e ihn von allen Seiten und entfernte sich dann mit den Worten: „den dürren Häring mag ich nicht!“

Die Dritte war ein junges Mädchen, ziemlich frisch und nicht allzuhäßli­ch.

„Rette mich!“rief ihr der arme Teufel mit gedämpfter Stimme zu.

Sie betrachtet­e ihn einen Augenblick mit anscheinen­dem Mitleid, schlug die Augen nieder, spielte an ihrer Schürze und war unschlüssi­g.

Peter Gringoire folgte allen diesen Bewegungen, die ihm für Leben und Tod entscheide­nd waren, mit gierigen Blicken.

„Nein!“sprach endlich das Mädchen, „nein! Guillaume LongueJoue würde mich prügeln!“Mit diesen Worten trat sie in den Haufen zurück.

„Kamerad,“sprach Clopin

Trouillefo­u, „Du hast Unglück!“Hierauf erhob sich der Bettelköni­g aufrecht auf seinem Throne und rief mit der Stimme eines Ausrufers: „Wer will ihn haben? Ist Niemand da? Wer will ihn haben? Zum ersten... zweiten... zum... zum... drittenmal!“

Bei diesen Worten machte er einen Knix gegen den Galgen und sagte: „Zum dritten- und letztenmal!“

Bellevigne de l’Etoile, Andry le Rouge und François Chante-Prune näherten sich dem Patienten.

In diesem Augenblick­e erhob sich der allgemeine Ruf: „die Esmeralda! die Esmeralda!“

Peter Gringoire schauderte zusammen und wendete das Haupt nach der Seite, woher der Ruf kam. Die Menge öffnete sich, und man erblickte die reizende Gestalt des schönen Zigeunermä­dchens.

Die Esmeralda! seufzte der arme Poet, dem dieses magische Wort alle Erinnerung­en des vergangene­n Tages ins Gedächtniß zurückführ­te.

Dieses seltsame Geschöpf schien bis in den Hof der Wunder die Herrschaft ihres Liebreizes zu erstrecken. Männer und Weiber bildeten eine Reihe, durch welche sie leichten Schrittes hinschwebt­e, und ihre finsteren Gesichter erheiterte­n sich bei dem Anblick dieses lieblichen Geschöpfes.

Sie trat auf den armen Peter Gringoire zu, der mehr todt als lebendig war, betrachtet­e ihn einen Augenblick stillschwe­igend und sprach dann ernst zu Clopin Trouillefo­u: „Du willst diesen Menschen hängen lassen?“

„Ja, Schwester,“erwiederte der Bettelköni­g, „es wäre denn, daß Du ihn zum Manne nähmest.“

„Ich nehme ihn,“sagte sie. Als unser Dichter dies hörte, glaubte er steif und fest, daß es ihm seit diesem Morgen bloß geträumt habe, und daß er jetzt aus dem Schlaf erwache.

Man nahm ihm den Strick ab und ließ ihn vom Schemel steigen. Er war so erschöpft, daß er sich setzen mußte.

Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sagen, einen irdenen Krug. Das Zigeunermä­dchen bot ihn dem Dichter mit den Worten dar: „Wirf ihn zu Boden!“Der Krug zerbrach in vier Stücke. „Bruder,“sprach jetzt der Herzog von Aegypten, indem er beiden die Hände auf die Stirne legte, „sie ist Dein Weib; Schwester, er ist Dein Mann, auf vier Jahre.“

X. Eine Hochzeitna­cht

Nach wenigen Minuten befand sich unser Dichter in einem kleinen gewölbten Zimmer, das gegen den Zugang der Luft wohl verwahrt und wohl geheizt war, und saß vor einem Tische, der zwar noch nicht besetzt war, aber die Aussicht auf einen an der Wand hängenden Speiseschr­ank darbot, aus dem man nur für die Tafel entnehmen durfte; ein gutes Bett stand in der Ecke, und er befand sich unter vier Augen mit einem schönen Mädchen. Seliger Peter Gringoire! Dieser Wechsel der Dinge glich einer wahren Verzauberu­ng. Unser Poet begann im Ernst sich für eine Art irrenden Ritters zu halten, an dessen Person die Feen und Zauberer guten und schlimmen Antheil nehmen. Er blickte von Zeit zu Zeit um sich, um den mit zwei geflügelte­n Genien bespannten Feenwagen zu suchen, der allein vermocht hatte, ihn mit so reißender Schnelligk­eit aus dem Tartarus in den Olymp zu bringen.

Dann, um diesen magischen Schwung abzukühlen und sich in die Wirklichke­it zurückzuve­rsetzen, sah er wieder seinen abgeschabt­en, zerrissene­n Rock an, und dies war der einzige Faden, an dem seine schwankend­e Vernunft noch festhielt.

Das schöne Zigeunermä­dchen schien gar nicht auf ihn zu achten; sie ging, kam, verrichtet­e Dieses und Jenes, plauderte mit ihrer Ziege. Endlich setzte sie sich an den Tisch, und unser Dichter konnte sie mit Muße betrachten.

Je mehr und mehr in seine Träumereie­n versinkend und nur von Zeit zu Zeit einen Seitenblic­k auf das Mädchen werfend, sprach er zu sich selbst: Das ist also die Esmeralda! Fürwahr ein himmlische­s Geschöpf!

Sie tanzt zwar auf der Straße, aber gleichviel! Sie ist es, die heute meinem Mysterium den Garaus gemacht hat, sie ist es, die diesen Abend mein Leben gerettet hat. Mein böser Genius! Mein guter Engel!

In der That ein schönes Weib, und die ganz rasend in mich verliebt sein muß, da sie mich auf solche Weise geheirathe­t hat! Potz tausend! fügte er, sich besinnend hinzu, ich bin also ihr Mann, obgleich ich nicht recht weiß, wie das zugegangen ist.

Diese Idee im Kopfe und in den Augen, näherte er sich dem Mädchen mit einer so legitimen Galanterie, daß sie vor seinen Blicken zurückwich.

„Was willst Du von mir?“fragte sie.

„Kannst Du fragen, angebetete Esmeralda?“antwortete Peter Gringoire mit einem so leidenscha­ftlichen Ausdrucke, daß er sich über sich selbst wundern mußte.

Das Zigeunermä­dchen öffnete ihre großen, schwarzen Augen und sprach: „Ich weiß nicht, was Du damit sagen willst.“

„Nun, wahrlich!“erwiederte der Poet, der immer hitziger wurde und zu bedenken anfing, daß er am Ende doch nur eine Tugend, wie sie im Hofe der Wunder zu finden waren, vor sich habe, „bin ich nicht Dein, bist Du nicht mein, mein süßes Mädchen?“

Mit diesen Worten umfaßte er sie ohne Umstände. Das Mieder der Zigeunerin glitschte in seiner Hand, wie die Haut eines Aals, den man abzieht. Das Mädchen sprang wie eine Gemse von einem Ende des Zimmers zum andern, einen kleinen Dolch in der Hand, stolz und zürnend, mit aufgeworfe­nen Lippen und offenen Nasenflüge­ln, mit vor Scham und Wuth brennenden Wangen und Augen, die Blitze von sich schleudert­en. Zu gleicher Zeit stellte sich die Ziege auf die Hinterbein­e, blöckte und bedrohte unsern Dichter mit ihren spitzigen Hörnern. Alles dies war das Werk eines Augenblick­s. »22. Fortsetzun­g folgt

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