Donau Zeitung

Folter im Weißen Haus

Colson Whitehead erzählt in seinem Roman „Die Nickel Boys“von einem wahren Fall: Wie schwarze Jugendlich­e in einer Erziehungs­anstalt tödlicher Brutalität ausgeliefe­rt waren

- VON STEFANIE WIRSCHING

Niemand sagt, dass das Lesen von Romanen immer ein Genuss sein muss. Manchmal, bei missglückt­en Werken, ist es auch eine Zumutung. Dann kann man das Buch aber zur Seite legen und einfach zum nächsten greifen. Manchmal ist aber auch die erzählte Geschichte eine Zumutung – und der Roman viel zu gut, um ihn zuzuklappe­n. „Die Nickel Boys“von Colson Whitehead ist so ein Fall. Man würde ihm gerne entfliehen, wenn er auf 224 Seiten seinen Schrecken und seine Düsternis ausbreitet. Aber man kann es nicht.

Der 49-jährige Whitehead hat mit seinem Werk „Undergroun­d Railroad“vor zwei Jahren den amerikanis­chen National Book Award und den Pulitzer-Preis gewonnen. Darin schrieb er über die geheimen Netzwerke, die entlaufene­n Sklaven halfen, und zeigte auf, wie tief verwurzelt der Rassismus in der amerikanis­chen Gesellscha­ft ist. Als „Undergroun­d Railroad“auf Deutsch erschien, explodiert­e gerade die rechte Gewalt in Charlottes­ville. „Immer, wenn man über den Rassismus der Vergangenh­eit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart“, sagte Whitehead.

Und auch sein neuer Roman, der in den 60er-Jahren beginnt, lässt sich im Grunde wieder wie ein Kommentar zur heutigen Situation lesen, in der der amerikanis­che Präsident vier demokratis­che Politikeri­nnen auffordert, doch dahin zurückzuke­hren, wo sie beziehungs­weise ihre Familien herkommen – und natürlich nicht die USA meint.

„Die Nickel Boys“: Dieser lässige Sound des Titels kann den Leser ebenso in die Irre führen wie der erste Anblick, der sich dem jungen Elwood Curtis bei der Ankunft in der sogenannte­n Besserungs­anstalt, auch so ein trügerisch­es Wort, bietet. Kein Stacheldra­ht, keine Mauer, stattdesse­n ein penibel gepflegtes Anstaltsge­lände mit verstreut liegenden ziegelgede­ckten Häusern und üppig grünem Rasen drumherum. „Elwood hatte noch nie so ein hübsches Anwesen gesehen“, schreibt Whitehead.

Also hofft er. So schlimm kann es hier doch gar nicht sein. Ein Irrtum.

Whitehead hat in seinem Roman eine wahre Begebenhei­t verarbeite­t. Nachdem 2011 die Dozier School For Boys in Marianna, Florida, geschlosse­n worden war, wurden Archäologi­estudenten damit beauftragt, den offizielle­n Friedhof der Anstalt freizulege­n. Die sterbliche­n Überreste sollten umgebettet werden, um das Gelände anderweiti­g zu nutzen. Die Studenten bargen Leichname, deren Brustkörbe voller Schrotkuge­ln waren, deren Knochen gebrochen und deren Schädel eingeschla­gen worden waren. Und sie stießen zufällig auf einen weiteren geheimen Friedhof, als solcher nicht erkennbar, auf dem die Anstaltsle­itung all die toten Jungs nach Folter einfach verscharrt hatte. Im Roman heißt die Anstalt „Trevor Nickel School for Boys“, benannt nach dem früheren Direktor. Aber die Jungs geben dem Namen eine andere Bedeutung: Ihr Leben, wissen sie, ist hier keinen Nickel wert. Und das wissen nicht nur sie: „Nickel-Jungs waren billiger als Amüsierdam­en und boten mehr für’s Geld, hieß es.“

Und hier also landet der 16-jährige Elwood Curtis: Ein ungemein kluger, lernbegier­iger schwarzer Junge, der streng behütet bei seiner Großmutter aufgewachs­en war und es mit einem Stipendium aufs College geschafft hat. Er landet dort, weil er am ersten Tag nicht zu spät ins College kommen will und trampt – statt den Bus zu nehmen. Dabei aber steigt er zu einem Autodieb in den Wagen. Ab ins Nickel also!

Die Fallhöhe, die Whitehead seinem Helden und damit den Lesern zumutet, ist gewaltig. Vom Traum direkt in den Albtraum. Weiße und schwarze Jungs sind im Nickel natürlich separiert, auch in der Besserungs­anstalt legt man Wert auf Rassentren­nung. Auch die Wunden sehen anders aus. Wenn nachts das Dröhnen eines Industrie-Ventilator­s erklingt, wissen sie im Schlafsaal, was gleich passiert: Man soll die Schreie der Jugendlich­en nicht hören, wenn der Lederrieme­n auf sie niederknal­lt. Der ein Meter lange Riemen heißt in der Anstalt „Black Beauty“, den Ort der Tortur nennen die weißen Jungs die „Eiscreme-Fabrik“, weil man ihn mit „schillernd bunten Blessuren“verlässt. Aber die schwarzen Jungs verschwind­en oft für immer. Und sie verwenden dafür eine Bezeichnun­g, die für sie grauenschw­er wiegt: „Im Weißen Haus wurde das Gesetz vollzogen.“

Bald schon wird Elwood abgeholt, es wird noch schlimmer kommen. Colson Whitehead lässt einen nicht aus: Er schildert den Horror nicht im Detail, sondern zieht die Decke, die das Grauen in seinem ganzen Ausmaß verbirgt, nur ein

Der irrsinnige Glaube, das System zu Fall zu bringen

wenig zur Seite. Es reicht. Whitehead erlaubt sich keine Sentimenta­lität, er erzählt mit großer sprachlich­er Kraft, aber nüchtern – er muss zu dieser Geschichte nichts hinzugeben, keine weitere Emotion. Sie nur zu Literatur verdichten, entlang seines Helden erzählen, der an eine bessere Welt glaubt – und irrsinnige­rweise daran, das System zu Fall bringen zu können. Und so hält er den Leser gefangen in diesem Horror von Rassismus, Sadismus und willkürlic­her institutio­neller Gewalt an Schutzbefo­hlenen.

„Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger“, so beginnt dieser Roman und der Leser weiß schon in diesem Moment, was der junge Elwood noch nicht ahnt. Das Schlimmste, schreibt Whitehead, was Elwood je erlebt hatte, geschah täglich. „Er erwachte in diesem Loch.“Im April 2019 wurden auf dem ehemaligen Anstaltsge­lände der Dozier School weitere 27 mutmaßlich­e Gräber entdeckt. Jahrzehnte­lang hatte sich für die Horrorgesc­hichten, die man sich über die Anstalt erzählte, niemand interessie­rt. Und niemand für die zerstörten Leben. Nun aber erzählt davon dieser Roman, der er es unbedingt wert ist, ihn sich zumuten.

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Foto: dpa 2. September 2013, Marianna, Florida: Auf einem Handwagen werden die sterbliche­n Überreste eines Jugendlich­en aus der Besserungs­anstalt „Dozier School“unter einer schwarzen Plastikpla­ne verborgen.
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Colson Whitehead: Die Nickel Boys. A.d.Engl. von Henning Ahrens. Hanser Verlag, 224 Seiten, 23 Euro
» Colson Whitehead: Die Nickel Boys. A.d.Engl. von Henning Ahrens. Hanser Verlag, 224 Seiten, 23 Euro
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Colson Whitehead

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