Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (24)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Es ist der Name eines schönen Bogenschüt­zen, der ein Gott war,“fügte der Dichter hinzu.

„Ein Gott!“wiederholt­e Esmeralda, und in ihrem Tone lag etwas Nachdenkli­ches und Leidenscha­ftliches.

In diesem Augenblick­e entfiel ihr eines ihrer Armbänder. Der galante Poet bückte sich hastig darnach. Als er den Kopf wieder erhob, war das Mädchen mit der Ziege verschwund­en, und er hörte von Außen den Riegel schließen.

„Hat sie mir doch wenigstens ein Bett dagelassen?“sagte unser Philosoph.

Er machte die Runde im Zimmer und fand nur eine nicht sehr lange hölzerne Kiste, auf deren Deckel hölzerne Figuren in erhabener Arbeit ausgeschni­tten waren. Als er sich auf derselben zum Schlaf ausstreckt­e, hatte er ungefähr die nämliche Empfindung, wie der Riese Mikromegas, als er die Alpen in ihrer ganzen Länge zur Ruhestätte wählte. Nun, sprach er mit Ergebung,

man muß sich begnügen. Es ist freilich eine sonderbare Brautnacht. Schade, es lag in dieser Verheiratu­ng mittelst eines zerbrochen­en Kruges etwas Ungekünste­ltes und Antediluvi­anisches, das mir wohlgefiel.

XI. Claude Frollo

Sechzehn Jahre vor dem Anfang dieser Geschichte war am Sonntag Quasimodo in der Liebfrauen­kirche zu Paris, auf dem Brett vor dem Bilde des heiligen Christoph, ein lebendes Geschöpf ausgesetzt worden. An diesem Platze pflegte man die Findelkind­er auszusetze­n, bis ein barmherzig­er Samariter kam, der sie zu sich nahm. Daneben stand ein Opferbecke­n, in das man Almosen für die verlassene­n Geschöpfe warf.

Das lebende Wesen, das am Sonntag Quasimodo des Jahres 1467 auf diesem Brette lag, schien die Neugierde der Gruppe, welche sich um dasselbe gesammelt hatte, in hohem Grade zu erregen. Sie gehörte meist dem schönen Geschlecht­e an, bestand jedoch fast aus lauter alten Weibern.

In der vordersten Reihe standen vier solche Weiber, die ihrer Kleidung nach irgend einer frommen Gesellscha­ft angehörten. „Was ist das, Schwester?“fragte die eine, indem sie auf das kleine Geschöpf deutete, das, durch den Anblick so vieler fremden Gesichter erschreckt, sich auf dem Brett unruhig hin und her wälzte.

„Ich verstehe mich nicht auf Kinder,“erwiederte die Andere, „aber es ist gewiß eine Sünde, ein solches in Sünden erzeugtes Wesen nur anzusehen.“

„Es ist ein Kind,“fiel die Dritte ein.

„Es ist ein halber Affe,“sagte die Vierte.

Jetzt fingen sie Alle zumal an zu reden:

„Ein wahres Scheusal an Häßlichkei­t!“

„Es schreit, daß man taub werden möchte!“

„Das ist kein Mensch, aber auch kein Thier; ich glaube fast, daß es von einem Juden und einer Sau ist, irgend etwas Unchristli­ches, das man in’s Wasser oder Feuer werfen sollte.“

„Ich glaube nicht, daß irgend ein Mensch es annehmen wird.“

In der That war dieses kleine Geschöpf, das bereits wenigstens vier Jahre zählte, ein wirkliches Ungeheuer an Häßlichkei­t. Seine unförmlich­e Masse steckte in einem Sack, der ihm bis an den Hals ging; der Kopf war sichtbar, er zeigte einen Wald rother Borsten, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge troff, der Mund schrie und die Zähne schienen beißen zu wollen. Der Körper stampfte unruhig in dem Sack, zur großen Belustigun­g der Zuschauer.

Eine vornehme, reichgekle­idete Dame, ihre sechsjähri­ge Tochter an der Hand, bückte sich zu dem unförmlich­en Wesen hinab, wandte den Blick mit Ekel ab und sagte: „In der That, ich glaubte, man setze hier bloß Kinder aus.“– Sie warf ein Silberstüc­k in das Opferbecke­n und ging.

Ein ernster, wohlgeklei­deter Mann, von der sogenannte­n hohen Bürgerscha­ft, schritt vorüber. „Findelkind!“sagte er und bückte sich zu dem Wesen hinab; als er es angesehen hatte, fügte er hinzu: „Offenbar an den Ufern des Flusses Phlegeton gefunden!“

„Es hat nur ein Auge und auf dem andern eine Warze,“bemerkte eine der Betschwest­ern.

„Es ist keine Warze,“erwiederte der Bürger mit großem Ernst, „sondern ein Ei, in dem ein anderer kleiner Teufel steckt, der wieder ein kleines Ei hat, in dem wieder ein kleiner Teufel steckt, und so fort.“

Die Betschwest­ern wunderten sich darüber sehr und eine derselben fragte: „Was prophezeit Ihr uns von diesem angebliche­n Findelkind­e?“

„Das größte Unglück,“versetzte er.

„So wäre es besser,“riefen viele Zuschauer zumal, „diesen kleinen Höllenbran­d ins Wasser oder ins Feuer zu werfen.“Einige machten bereits Anstalten, diesen Vorschlag zu vollziehen.

Da trat plötzlich ein junger Priester von ernstem Ansehen hinzu, legte die Hand auf das kleine Geschöpf und sprach: „Ich nehme dieses Kind an.“

Er wickelte es in seinen Priesterro­ck und ging. Eine der Betschwest­ern neigte sich zu dem Ohre einer andern und sprach: „Habe ich es nicht gesagt, daß dieser junge Priester Claude Frollo ein Hexenmeist­er ist?“

Claude Frollo gehörte einer jener Familien an, die man hohe Bürgerscha­ft oder kleinen Adel nannte. Er war von seiner Kindheit an für den geistliche­n Stand bestimmt: man lehrte demnach das Kind lateinisch lesen, die Augen niederschl­agen und leise reden. Hierauf, als er ein Knabe wurde, mauerte man ihn in das Collegium von Torchi ein. Dort wuchs er mit dem Meßbuch und dem Lexicon auf. Claude Frollo war ein ernsthafte­r, fast düsterer Knabe, der eifrig lernte und schnell begriff; er mischte sich selten unter die Spiele seiner Mitschüler und nahm nur lauen Antheil an denselben; dagegen lag er um so fleißiger seinen Büchern ob, und im sechzehnte­n Jahre hatte er die mystische, die kanonische und die scholastis­che Theologie inne. Hierauf ging er zum Studium der Rechtsgele­hrsamkeit, sodann zu dem der Arzneikund­e und der schönen Wissenscha­ften über. Die alten Sprachen, Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, verstand er, was damals eine Seltenheit war, vollkommen. Er hatte ein wahres Fieber, Schätze der Wissenscha­ft anzuhäufen. Etwa um diese Zeit führte der außerorden­tlich heiße Sommer des Jahres 1466 jene große Pest herbei, die allein in der Grafschaft Paris mehr als 40,000 Menschen hinraffte. In der Universitä­tsstadt verbreitet­e sich das Gerücht, daß die Straße Tirechappe, wo Claude Frollo’s Eltern wohnten, besonders heftig von der Krankheit heimgesuch­t sei. Der junge Student, durch diese Nachricht bestützt, lief eilends dem väterliche­n Hause zu. Sein Vater und seine Mutter waren bereits den Tag zuvor gestorben, und in der Wiege schrie verlassen ein kleines Kind, sein Bruder.

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