Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (29)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Das heißt auf das hohe Roß steigen, Epidaurus und Chaldäa zumal!“sagte der Doktor spottend.
„Hört, Meister Jakob, und ärgert Euch nicht. Welche Wahrheit habt Ihr, ich will nicht sagen, aus der Medicin, denn das wäre allzu lächerlich, sondern aus der Astrologie gezogen? Führt mir die Eigenschaften des senkrechten Bustrophedon, den Erfund der Zahl Ziruph und der Zahl Zephirod an.“
„Wollt Ihr,“versetzte der Doktor, „die sympathetische Kraft der Clavicula läugnen und bestreiten, daß von ihr die Cabalistik ausgeht?“
„Ihr irrt Euch, Meister Jakob, keine Eurer Formen führt zur Wirklichkeit. Die Alchymie hingegen hat ihre unbestrittenen Entdeckungen. Wollt Ihr Ergebnisse läugnen, wie die folgenden sind: das während tausend Jahren unter der Erde eingeschlossene Eis verwandelt sich in Felskrystall. Das Blei braucht bloß vier Perioden, je von zweihundert Jahren, um allmählig von Blei in rothen Arsenik, von rothem
Arsenik in Kupfer, von Kupfer in Silber überzugehen. Sind das nicht lauter Thatsachen? Hingegen an die Clavicula, an die Linie der Hand und an die Gestirne zu glauben, ist eben so lächerlich, als wenn man glaubt, daß sich ein Vogel in einen Maulwurf verwandle.“
„Ich habe die Hermetik studirt,“schrie der Arzt, „und ich bekräftige...“
Der streitfertige Priester ließ ihn nicht zum Worte kommen: „Und ich, ich habe die Medicin, die Astrologie und die Hermetik studirt. Hier allein ist Wahrheit, hier allein ist Licht!“
Mit diesen Worten nahm er die oben erwähnte, gläserne, mit einem feinen Pulver gefüllte Flasche zur Hand und fuhr begeistert fort: „Hippokrates ein Traum; Urania ein Traum; Hermes ein Gedanke! Das Gold ist die Sonne. Goldmachen heißt Gott sein. Dies ist die einzige Wissenschaft. Ich bin in die Tiefen der Medicin und Astrologie gedrungen, ein Nichts, ein Nichts sage ich Euch! Der menschliche Körper: Dunkelheit! Die Gestirne: Dunkelheit!“
Der Priester fiel in der Stellung eines Begeisterten auf feinen Lehnstuhl zurück. Der Gevatter Tourangeau betrachtete ihn stillschweigend. Der Leibarzt murmelte für sich: Ein Narr! Ein Narr!
„Und,“fragte plötzlich der Gevatter Tourangeau, „seid Ihr zum Ziele gelangt, habt Ihr Gold gemacht?“
„Hätte ich Gold gemacht,“sagte langsam und feierlich der Priester, „so würde der König von Frankreich Claudius heißen, nicht Ludwig.“Gevatter Tourangeau runzelte die Stirne.
„Was sage ich da?“unterbrach sich der Priester selbst mit einem Lächeln der Verachtung. „Was sollte mir dieser Thron von Frankreich, wenn ich das morgenländische Kaiserreich wieder errichten könnte!“
„Das lasse ich gelten!“sagte der Gevatter.
„Ach, der arme Narr,“murmelte der Arzt.
Der Priester fuhr in tiefen Gedanken und, als ob er allein wäre, zu sich selbst sprechend, fort: „Aber nein, ich krieche noch, Kniee und Gesicht sind mir wund von den Steinen der unterirdischen Bahnen. Zur Betrachtung möchte ich gelangen, und es leuchtet mir nur ein ferner Schimmer! Ich bin ein armer Schüler in der großen Wissenschaft!“
„Und wenn Ihr zur Betrachtung gelangt sein werdet,“fragte der Gevatter, „könnt Ihr dann Gold machen?“
„Wer mag daran zweifeln?“„In diesem Falle, unsere liebe Frau weiß, wie nöthig ich das Geld brauche, möchte ich wohl in Euren Büchern lesen lernen. Sagt mir doch, ehrwürdiger Meister, ist Eure Wissenschaft unserer lieben Frau nicht mißfällig oder feindlich?“
„Bin ich nicht Erzpriester der Kirche unserer lieben Frau!“versetzte der Archidiakonus mit ruhiger Würde.
„Das ist wahr, mein Meister. Nun, wenn es Euch gefällt, so weiht mich in die Anfangsgründe Eurer Wissenschaft ein.“
Der Archidiakonus nahm die majestätische und priesterliche Haltung eines Samuel an: „Alter Mann, es erfordert mehr Jahre, als Dir noch übrig sind, in die Tiefen der verborgenen Weisheit zu dringen. Dein Haupt ist schon sehr grau! Man betritt ihr Heiligthum mit schwarzen Haaren, und mit schneeweißem Haupte geht man heraus. Treibt Dich aber unüberwindliche Lust, das Alphabet der Weisen zu entziffern, so will ich Dein Lehrer sein. Ich verlange nicht von Dir altem Manne, daß Du die Grabgewölbe der Pyramiden besuchst, noch den steinernen Thurm von Babel, noch den Marmortempel von Eklinga. Ich selbst habe weder die chaldäischen Mauern, noch Salomons Tempel gesehen. Wir müssen uns mit den Fragmenten des Buches von Hermes begnügen. Ich werde Dir die Bildsäule des heiligen Christoph, das Gleichnis vom Säemann, und das Symbolum der beiden Engel erklären, die am Eingang der heiligen Kapelle stehen, und deren einer seine Hand in einem Gefäß, der andere in einer Wolke hat …“
„Erras, amice Claudi!“fiel der Arzt triumphirend ein. „Das Symbol ist nicht die Zahl. Ihr nehmt Orpheus für Hermes.“
„Ihr selbst irrt,“erwiederte ernst der Priester, „Dädalus ist der Grundstein, Orpheus die Mauer, Hermes das Gebäude, das Ganze. Ihr könnt kommen, wann Ihr wollt,“fuhr er, zu dem Gevatter Tourangeau gewendet, fort, „ich werde Euch die Hieroglyphen am Hospital Saint-Gervais, an den Vorderseiten von Saint-Come, von Sainte-Genevieve, von Saint-Martin und Saint-Jacques kennen lehren …“
„Was sind denn das für Bücher?“unterbrach ihn der Gevatter Tourangeau, der ihn nicht zu verstehen schien, mit Ungeduld.
„Ich will Euch,“erwiederte der Priester, „ein solches Buch zeigen.“Mit diesen Worten öffnete er das Fenster seiner Zelle und deutete mit dem Finger auf den ungeheuren Umriß der Liebfrauenkirche, die ihren weiten Schatten in die Nacht warf, und mit ihren beiden Thürmen als eine zweiköpfige Sphinx, mitten in der Stadt thronend, erschien. Der Archidiakonus betrachtete eine Zeitlang stillschweigend das gigantische Gebäude, dann legte er mit einem Seufzer seine rechte Hand auf die Druckschrift, die offen auf dem Tische lag, streckte die linke gegen die Liebfrauenkirche aus und sagte traurig: „Diese Buchstaben werden diese Steine tödten!“
Der Arzt schlug schnell den Titel des Buches nach und rief! „Was ist denn das so Furchtbares: Glossa in epistolas D. Pauli, Norimbergiae, Antonius Koburger, 1474. Das ist ja von Peter Lombard und längst bekannt. Etwa weil es gedruckt ist?“
„Du hast es gesagt,“antwortete der in tiefes Nachdenken versunkene Priester. Dann fügte er in geheimnißvollem, prophetischem Tone hinzu: „Das Kleine wird das Große überwinden, ein Zahn wird Felsen und Mauern zermalmen. Der Ichneumon tödtet das Krokodil des Nils, der Schwertfisch den Riesen des Meeres, die Buchstaben der Druckschrift werden die Kirche tödten!“