Wo Kinderreichtum noch vor Altersarmut schützen soll
Die Afrika-Aussagen von Schalke-Aufsichtsratschef Clemens Tönnies waren beleidigend. Doch das ändert nichts daran, dass die Diskussion zum Bevölkerungswachstum geführt werden muss. Immerhin gibt es auch Staaten auf dem Kontinent, die ein Vorbild sein könn
Kapstadt An berechtigter Kritik anlässlich der rassistischen AfrikaAussagen von Schalkes Aufsichtsratschef Clemens Tönnies mangelte es nicht. Im hemdsärmeligen Kolonialstil hatte der Chef des FußballBundesligisten den Bau von 20 Kraftwerken in Afrika anstelle von Steuererhöhungen im Kampf gegen den Klimawandel empfohlen. „Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren“, polterte er. Der Ehrenrat des Vereins erkannte in seiner Aufarbeitung des Falls keinen Rassismus, immerhin jedoch lässt Tönnies sein Amt freiwillig für drei Monate ruhen.
In die Empörung mischte sich in den vergangenen Tagen aber auch so manche Stimme, die zwar die Wortwahl heftig kritisierte, aber eine Diskussion der von Tönnies so beleidigend formulierten Aspekte des Bevölkerungswachstums und schwindenden Regenwalds anregte. So bezeichnete der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin Angela Merkel, Günter Nooke (CDU), beide Probleme gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland als „real“. Darüber müsse „gesprochen und gegebenenfalls kontrovers diskutiert werden“. Und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) bezeichnete die Äußerung als „vielleicht auch notwendig“.
Fakt ist, dass Afrika die letzte Region der Welt mit enorm hohem Bevölkerungswachstum ist – jährlich sind es 2,52 Prozent. Asien und Lateinamerika folgen mit rund einem Prozent deutlich dahinter. Jede Frau in Afrika hat im Schnitt 4,8 Kinder, das Bevölkerungswachstum sinkt, aber zu langsam – im Jahr 2006 lag der Durchschnitt bei 5,48. Volkswirtschaftlich sind die vielen Minderjährigen derzeit eine Belastung, der Staat muss für Gesundheitsversorgung und Bildung aufkommen.
Der Wissenschaftler Jakkie Cilliers von der südafrikanischen Denkfabrik „Institute for Security Studies“(ISS) hat auf Basis der vorhandenen Prognosen errechnet, dass der Wert im Jahr 2054 auf unter 2,8 gefallen sein wird. Erst ab dann sei das Verhältnis zwischen der Bevölkerung im arbeitsfähigen und nichtarbeitsfähigen Alter für rund 20 Jahre ideal. Ökonomen sprechen davon, dass die „demografische Dividende“eingefahren werden könnte. Weit verbreitet ist die These, dass Wirtschaftswachstum zur Reduzierung der Geburtenrate führt. Das ist eine verkürzte Darstellung. So erlebten viele afrikanische Länder beachtliche, teilweise zweistellige Wachstumsraten zwischen den Jahren 2002 und 2007. Die Geburtenraten sanken während dieser Boomjahre dennoch nicht annähernd so rasch wie bei vorangegangenen vergleichbaren Wachstumsperioden in Asien.
In weiten Teilen Afrikas hat sich die gesundheitliche Versorgung und damit die Lebenserwartung verbessert – übrigens auch ein Grund für das derzeitige Bevölkerungswachstum. Das Wachstum wird aber oft in der Rohstoffbranche generiert. Sie schafft vergleichsweise wenig Arbeitsplätze, die Einnahmen kommen nur einer kleinen Elite zugute. Der individuelle Wohlstand hat sich nicht im gleichen Maße wie in Asien erhöht, Rentensysteme bleiben ohnehin die Ausnahme. So trifft man bei Recherchen in Afrika weiterhin regelmäßig auf Menschen, die eine große Zahl von Kindern auch als Al- tersvorsorge betrachten.
Zudem fiel so mancher Lenker großer afrikanischer Länder bei Staatsbesuchen in Deutschland mit erstaunlichen Aussagen zu Frauen auf. „Sie gehört in meine Küche, mein Wohnzimmer und das andere Zimmer“, sagte Nigerias Präsident Muhammadu Buhari über seine Frau Aisha. Und Ugandas Präsident Yoweri Museveni gab zu Protokoll: „Das Familienoberhaupt geht niemals in die Küche.“Museveni hatte lange Bevölkerungswachstum als Motor für Ugandas wirtschaftlichen Aufschwung gepriesen. Davon ist er inzwischen abgewichen, dafür wählte Tansanias Präsident John Magufuli erst vor wenigen Wochen die gleiche Argumentation: „Setzt Eure Eierstöcke frei“, sagte er bei einer Kundgebung.
Während Politiker wie Magufuli die Schlagzeilen beherrschen, gibt es auch weit besonnenere Kollegen. Die meisten Regierungen hätten die Bedeutung sinkender Geburtenraten für den Fortschritt ihres Landes erkannt, sagte Fatima Sy von der „Ouagadougou Partnership“im Januar in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt.
Die damalige Koordinatorin des Zusammenschlusses von neun westafrikanischen Regierungen und Hilfsorganisationen zur Verbesserung der Familienplanung bemängelte aber, dass es oft besonders in ländlichen Gegenden zu wenige Mediziner für die Verteilung von Verhütungsmitteln gebe. Zudem sei der Einfluss von religiösen Führern sowohl in christlichen wie muslimischen Gegenden oft größer als der von Politikern. „Viele von ihnen fordern die Leute auf, große Familien zu haben.“
Gleichwohl gibt es auch in Afrika Länder, die Hoffnung machen, dass sich etwas ändert. Ruanda erlebte in den Jahren 2005 bis 2010 eine der „am schnellsten sinkenden Fruchtbarkeitsraten während eines Fünfjahreszeitraums in der menschlichen Geschichte“, teilte die staatliche Statistikbehörde stolz mit. Wegen des vermehrten Gebrauchs von Verhütungsmitteln sei die Zahl der Kinder pro Frau von 6,3 auf 4,6 gesunken. Aktuell liegt die Geburtenrate bei 3,8. In den besser entwickelten Ländern Mauritius (1,5), den Seychellen
Diese Wachstumsraten gibt es nur noch in Afrika
Die besser entwickelten Länder machen es vor
(2,3) und Kapverden (2,4) ist die Geburtenrate ohnehin deutlich geringer.
Natürlich ist auch die von Tönnies angesprochene Abholzung der Regenwälder ein großes Problem in Afrika. Dabei geht es nicht nur um den Urwald, in vielen Gegenden werden im großen Stil Bäume gefällt. Ein paar Beispiele: In Somalia ist der illegale Holzkohlehandel einer der wichtigsten Erwerbszweige geworden. In Madagaskar werden nach Angaben der Umweltschutzorganisation „WWF“jährlich 120000 Hektar Wald gerodet. Und in Uganda beobachten die Behörden mit Sorge Abholzungen in den Gebieten rund um das Bidi-Bidi-Lager. Hier wurden hunderttausende Flüchtlinge aus dem Südsudan aufgenommen, die vor dem dortigen Bürgerkrieg flohen. Das Holz nutzen sie überwiegend zum Kochen.
All das trägt nicht nur zum Klimawandel, sondern auch zur Erderosion bei, was die Landwirtschaft und damit die Lebensgrundlage vor Ort gefährdet. Doch wer wie Tönnies bei der Klimadebatte mit erhobenem Finger auf den Kontinent zeigt, der sieht die Angelegenheit zu einseitig. Afrika ist nach wie vor deutlich dünner besiedelt als Europa und Asien. Und die CO2-Emmissionen pro Einwohner sind in Deutschland 300 Mal so hoch wie zum Beispiel im Kongo.